Führt jemand von Euch ein ganz privates Tagebuch, das niemand sonst je sieht und liest, außer Euch selbst? Handschriftlich in einem schönen oder auch profanen Notizbuch oder Taschenkalender oder als fortlaufende Datei? Einträge, in denen schmerzhafte oder erfreuliche Begebenheiten festgehalten und erörtert werden, mit Gefühlen und Daten und Namen? Besondere Begegnungen, Liebesleid und Liebesfreud, so privat, dass es niemand sonst zu Lebzeiten lesen soll, darf?

Ich habe mich vor zwanzig Jahren konsequent davon gelöst, als ich zu öffentlichen Einträgen, die auch immer persönlicher und ausführlicher wurden, überging, woraus sich mein Blog entwickelte. Ich hatte gar nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt, obgleich ich bis zu diesem Wendepunkt sehr regelmäßig hochemotionale Dinge handschriftlich auf Papier festhielt, die auch heute noch für mich erkennen lassen, wer oder was gemeint war. Namen konnten im Schutz des Privaten vermerkt werden, ohne Aufruhr auszulösen.

Eher selten dachte ich später, als ich im Internet nur noch mit sehr bedachter, großer Diskretion schrieb, und eher Andeutungen machte, dass ich gerne viel deutlicher erzählen würde. Merkwürdig, diese Zäsur.

Heute, rückblickend, bin ich geradezu mitgenommen und oft auch schockiert, durch welche tiefen Abgründe ich emotional gegangen bin, und mit welcher Deutlichkeit ich Vieles von meinem elften bis zu meinem 37. Lebensjahr dokumentierte. Sehr detailliert, noch beim Lesen später bis heute schmerzhaft. Das Wiederaufleben eines abgeschlossenen Empfindens durch die schiere Lektüre. Schönes auch, aber so viel Schmerz.

Davon musste ich mich wohl auch erholen. Mir wurde klar, dass ich das Schmerzhafte durch die Niederschrift gar nicht loswerde, sondern verewige. Ja, das war der Grund.

Wenn ich – allerdings selten – davon höre, dass jemand wie ich ein persönliches Blog schreibt und zusätzlich ein privates Tagebuch, fühle ich mich als Leserin irgendwie betrogen. Als ob noch größere Schätze vorhanden sind, die mir vorenthalten bleiben. Ich weiß, das ist unsinnig, denn ich verschließe ja auch Einiges tief in mir. Manches ist engen Freunden teilweise oder auch weiter gehend bekannt, manches mache ich nur mit mir aus. Es gibt ja keine Berichterstattungspflicht zum Privatleben.

Aber es ist immer wieder auch eine Gratwanderung für mich, weil viel und leidenschaftlich und kontinuierlich schreibende Menschen auch um das Potenzial als interessante und inspirierende Lektüre für andere wissen, das eben vor allem intime Bekenntnisse haben. Wenn ich in mich hineinhöre, spüre ich, dass sich weiterhin kein Drang abzeichnet, sehr viel mehr zu offenbaren. Ich versuche die Grenze aber auch nicht zu hart zu setzen. Mitgefühl wäre immer zu erwarten, das ist nicht die Befürchtung, eher Verletzung, Preisgabe von Beteiligten durch unerwünschte Offenbarungen. Was nur meine Abgründe angeht, darf ich frei entscheiden, zu offenbaren.

11 Antworten auf „09. Februar 2023

  1. Ich nutze mein Notizbuch gerne auch als Tagebuch für Dinge, die nicht ins Blog gehören (mitunter auch Dinge, die später verbloggt werden).

    Für mich ist das Aufschreiben von Erlebnissen eher ein Bannen, weil ich sie dann nicht mehr im Kopf mit mir herumtragen muss. Ähnlich (wenn auch profaner) verhält es sich mit Dingen für die Aufgabenliste.

  2. „Mir wurde klar, dass ich das Schmerzhafte durch die Niederschrift gar nicht loswerde, sondern verewige.“
    Treffend formuliert. Wegwerfen will ich die Kiste mit handschriftlichen Tagebüchern zwar nicht (ab Alter von ca. 8/9 Jahren, und kürzlich festgestellt, dass ich wohl noch einige Jahre parallel zum Bloggen geschrieben habe), aber auch recht sicher nie wieder reinlesen.

  3. @flusskiesel – Da fällt mir ein, eine Weile hatte ich ein tatsächlich goldenes Notizbuch unterwegs bei mir, um Kuriositäten oder Bemerkenswertes im Alltag, zumeist bei meinen S-Bahn- und U-Bahnfahrten festhalten. Das waren dann sozusagen Denkzettel für Blogeinträge, die ich dann auch ordentlich umsetzte. Das Notizbuch hat ein gewisses Gewicht, ist etwas größer und schwerer als so ein Kleinformatiges, ich habe die Tendenz, immer möglichst wenig herumzutragen, aber ohne das gingen mir ein paar erinnernswerte Momente durch die Lappen. Es hat noch viele leere Seiten, vielleicht greife ich es wieder auf, im Frühling, wenn man nicht mehr so verpackt durch die Welt gondelt. Aber ganz sicher werde ich in das Notizbuch keinen Herzschmerz kritzeln :-)

  4. @kaltmamsell – Wegwerfen kommt (noch) gar nicht in Frage. Dafür ist es zu einmalig, das können immer noch die NachlassverwalterInnen besorgen oder wir selbst, kurz vor unserem Ableben. Wir müssen auch bedenken, wir wären froh, hätten wir auch nur ein einziges altes Tagebuch eines Vorfahren. Bei der Vorstellung habe ich eine Gänsehaut. In meiner Familie gibt es nichts Derartiges, auch aufgrund der Fluchtgeschichte. Ich las als Kind manchmal heimlich im Backfisch-Tagebuch meiner Mama, das sie in einer Schlafzimmer-Schublade liegen hatte. Ich glaube, sie erwischte mich einmal dabei. Das waren Einträge aus den Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre. Ich war fasziniert, dass meine Mutter ein Leben vor dem Muttersein hatte, sie erschien mir attraktiver. Ich hätte gerne die Frau in dem Tagebuch getroffen. Sie schien verschwunden zu sein.

  5. Maximilian Buddenbohm dazu in seinem Eintrag vom 12. Februar 2023

    (…) Ich führe kein Tagebuch mehr nebenbei, die Unvollständigkeit der beiden Seiten hat mich irre gemacht, ich bin zu ordnungsverliebt für so etwas. Ich hatte immer das Gefühl, ich müsste beide Notate passend zusammenbringen, wie bei einem Puzzle. Das war selbstverständlich Unsinn, aber eben Gefühl, was willste machen. Ich beschränke mich aufs Bloggen, habe nunmehr nur noch eine unvollständige Seite zu befüllen und lasse also viel weg. Ein erheblicher Teil des Alltags steht hier nicht, ich finde das für mich richtig so. Ich schreibe mir mein Leben zurecht. Wie vermutlich alle, die schreiben.

    Gaga Nielsen 12. Februar 2023 um 11:59 Uhr

    Oh ja, die Ordnungsliebe kommt noch hinzu. Doppelte Buchführung mit differierenden Inhalten fühlt sich an wie eine umständliche Zerstückelung. Dabei führt man doch nur ein (in Zahlen: 1) Leben. Ich habe immer so eine Vorstellung von ernstzunehmender Schriftstellerei, also Literatur, dass da ganz tief und schonungslos offenbart werden muss, was mit verfremdeten Eckdaten ja auch hervorragend zu leisten ist. Aber das überlasse ich berufenen Literaten und bleibe eine Befindlichkeits-Bloggerin für den weltweiten Hausgebrauch, die sich in Schonhaltung überlegt, die eine oder andere Schublade vielleicht doch mal ein bißchen weiter rauszuziehen 🙂

    Maximilian Buddenbohm 12. Februar 2023 um 15:27 Uhr

    @Gaga: Genau so.

  6. @Gaga Nielsen
    Mein Notizbuch ist so ein kleines, schwarzes von Leuchtturm (diese Firma hat mich fest in ihren Klauen). Dort kommen aber auch alltägliche Notizen rein oder wenn mir Ärztinnen und Ärzte was sagen. Mein Gedächtnis ist so schlecht, dass ich mir alles aufschreiben muss und während eines Gesprächs hektisch auf dem Handy herumzutippen finde ich irgendwie doof.

    Da das Notizbuch analog ist, darf da wirklich alles rein: Alltagsbeobachtungen, aber auch Gefühle und Gedanken inklusive Herzschmerz.

  7. kid37 – 12. Feb, 19:08
    Das handschriftliche Tagebuch habe ich irgendwann abgeschlossen (und will das auch nie wieder lesen). Möchte aber tatsächlich weniger Bloggen und mehr (also regelmäßiger) Notizen führen. Das erlaubt fragmentarische Ideen festzuhalten, eine Bemerkung, eine gelungene (oder auch nicht so gelungene) Formulierung, eine Skizze. So ein Blog verliert auch viel, digital ist flüchtig.

    g a g a – 13. Feb, 00:59
    An sich könnten die smarten Smartphone-Besitzer ja auch einen festzuhaltenden Gedanken oder Eindruck da reinsprechen oder notieren. Ich stehe auf Kriegsfuß mit den Apparaten, hat sich auch nicht geändert, seit ich ein Iphone 12 zwecks Verifizierung bei einem bestimmten Login-Verfahren überlassen bekam. Ich benutze das Ding ausschließlich dafür, ansonsten bleibt es in der Schublade, ich trage es nie mit mir rum. Das Gewische und Getatsche auf der Scheibe geht mir schon gegen den Strich :-)

    Aber damit stehe ich wohl sehr allein. Ich kenne niemanden, der den Apparat hat und nur eine einzige Anwendung davon, und die nur insgesamt ca. 10 Sekunden pro Werktag nutzt. Ist wirklich Perlen vor die Säue bei mir. Entspricht nicht meinen haptischen, visuellen und kognitiven Vorlieben. Und die Kamera da drin interessiert mich nicht die Bohne. Habe einmal versehentlich wohl auf das Symbol dafür getascht und das Ding vor Schreck fast fallen lassen. Ein Glück, dass mir wer gezeigt hat, wie ich das zumachen kann und wieder ins Hauptmenü komme. Mehr weiß und kann ich nicht.

    Oh ich habe gelogen: ich habe zweimal damit telefoniert, war eine Art Notfall in meinem Job. Also gut, das könnte ich auch. Privat telefoniere ich extrem selten, und dann von Festnetz-Telefon.

    Mich wundert schon, dass Leute, die so einen Apparat immer bei sich haben, den auch mögen und viele Anwendungen kennen und nutzen, dann trotzdem auf ein analoges Notizbuch schwenken. Der sinnliche Zugriff vermute ich. Und der dreidimensionale Aspekt ist eigentlich schon sehr toll. Neue Definition von High End, geiler Scheiß und State of Art: sinnlich anfassbar.

  8. Das Tippen auf dem Smartphone empfinde ich als zu fummelig. Für kurze Nachrichten, Einkaufsliste, Aufgabenliste usw. ist es ja ganz in Ordnung, aber für ,,richtige“ Gedanken nicht geeignet. Tonaufnahmen von mir selber möchte ich nicht abhören müssen und die Spracherkennung von Siri ist mir nicht gut genug.

    So nützlich mir das Schlauphon auch ist: Ein Notizbuch funktioniert ohne Akku, macht keinen Lärm und geht auch nicht so schnell kaputt.

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