28. November 2010


Und Kürbissuppe. Immer Kürbissuppe. Fünfter Tag ohne Bordeaux, Côtes du Rhône etc. Keinerlei Entzugserscheinungen. Von dem liebgewonnenen Ritual abgesehen (man kann sich da auch hineinsteigern). Im Gegenteil. Freitag entgegnet Freundin S. auf mein Bekenntnis, schon sehr regelmäßig, also mehr oder weniger allabendlich, ein bis zwei Gläser Rotwein zu trinken, und meinen Einschub, dass diese Menge, also ein bis zwei Gläser ja immer wieder von Ärzten empfohlen würde, gut für’s Herz wäre usw. usf., „jahaha, aber das was da drin ist, was da wirkt, diese Gerbstoffe sind auch in rotem Traubensaft drin, meine Liebe. Also wenn es das ist…“ Ich mein Tun verteidigend: „Aber ich mag den Geschmack, ich würde den Wein auch ohne Alkohol trinken, nur Traubensaft schmeckt eben anders, schmeckt mir nicht so.“ Wie auch immer, drei Gläser sind zuviel. Ich hatte letzte Woche ein Drittes zu viel, es ging mir nicht gut, am nächsten Tag. Seitdem keine Lust mehr auf alkoholhaltige Getränke. Man schläft jedenfalls besser und wacht ganz ohne Eintrübung auf. Ich bin auf dem besten Weg zur Asketin. Wenn ich aufzähle, was ich seit geraumer Zeit sonst noch alles unterlasse, kriegen meine Leser Mitleid oder Minderwertigkeitskomplexe.

30. November 2010


Jopi Heesters hat sich pünktlich zum 107. das Rauchen abgewöhnt. Ich finde, das sollte Schule machen. Sollte ich mir in den nächsten zweiundsechzig Jahren ernsthaft das Rauchen angewöhnen, verspreche ich hier und heute, dass ich an meinem 107. Geburtstag damit aufhören werde. Sollte ich dieses Versprechen nicht einlösen, sprechen Sie mich bitte darauf an.

30. November 2010


Jopi Heesters hat sich pünktlich zum 107. das Rauchen abgewöhnt. Ich finde, das sollte Schule machen. Sollte ich mir in den nächsten zweiundsechzig Jahren ernsthaft das Rauchen angewöhnen, verspreche ich hier und heute, dass ich an meinem 107. Geburtstag damit aufhören werde. Sollte ich dieses Versprechen nicht einlösen, sprechen Sie mich bitte darauf an.

29. November 2010

Meine Bereitschaft, an das Zauberhafte in der Welt zu glauben, ist nicht zu brechen. Eben die Überschrift „Mann fährt Schlangenlinien“ gelesen und gedacht, es könnte sich um das Portrait eines besonders erfinderischen Zeitgenossen handeln, der zur Freude seiner Umgebung tolle Schlangenlinien fährt. Vom Hobby-Schlangenlinienfahrer zum Entertainer. In Gedanken sah ich schon den Hut herumgehen. Vielleicht fährt er Einrad und hat dabei einen Zylinder auf! Aber die Welt ist leider etwas langweiliger gestrickt als meine Phantasie. Es war eine Art Verkehrsmeldung. Möglicherweise war Alkohol im Spiele. Tief enttäuscht habe ich darauf verzichtet, die Meldung zu Ende zu lesen. Sicher wurde der Mann in dem Bericht diskriminiert. So ist es doch immer. Andererseits muss man zugute halten, dass man an den Rändern der Republik keinen Kopfstand machen muss, um in die Zeitung zu kommen. Es hat eben alles sein Gutes.

29. November 2010

Meine Bereitschaft, an das Zauberhafte in der Welt zu glauben, ist nicht zu brechen. Eben die Überschrift „Mann fährt Schlangenlinien“ gelesen und gedacht, es könnte sich um das Portrait eines besonders erfinderischen Zeitgenossen handeln, der zur Freude seiner Umgebung tolle Schlangenlinien fährt. Vom Hobby-Schlangenlinienfahrer zum Entertainer. In Gedanken sah ich schon den Hut herumgehen. Vielleicht fährt er Einrad und hat dabei einen Zylinder auf! Aber die Welt ist leider etwas langweiliger gestrickt als meine Phantasie. Es war eine Art Verkehrsmeldung. Möglicherweise war Alkohol im Spiele. Tief enttäuscht habe ich darauf verzichtet, die Meldung zu Ende zu lesen. Sicher wurde der Mann in dem Bericht diskriminiert. So ist es doch immer. Andererseits muss man zugute halten, dass man an den Rändern der Republik keinen Kopfstand machen muss, um in die Zeitung zu kommen. Es hat eben alles sein Gutes.

28. November 2010

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8. Oktober 2010.
Werner Herzog, um den es ja hauptsächlich ging, ließ sich durch seinen Halbbruder Lucki Stipetić, der auch der Produzent seiner Filme ist, und seinen langjährigen Kameramann Thomas Mauch entschuldigen. Er musste sich unerwartet kurzfristig einer Operation unterziehen und ließ sein tiefes Bedauern vom Krankenbett aus bestellen. Mauch erzählte launige Kinski-Anekdoten und einigermaßen Überraschendes von den Dreharbeiten. Aguirre war eine Low Budget-Produktion, bei der es nicht einmal Lampen am Drehort gab. Ein Drittel des Budgets wurde durch Kinskis Gage verbraucht und man hat improvisiert. Wenn die Haltung grandios ist, überzeugt auch die improvisierte Variante. Die Frage ist, was man selbst davon hält. Wenn sich irgendein Krempel manifestieren will, setzt sich der Impuls durch, egal ob mit oder ohne Lampe. Auf Pappkarton oder Leinwand. Das Medium ist zweitrangig. Allerdings nicht unerheblich bei jenen Filmstills, in welcher Qualität sie als exhumiertes Folgeprodukt dargeboten werden. Ich weiß nicht, wer auf die Idee mit dieser grellen Hochglanzvariante auf Alu-Dibond gekommen ist. Matter wäre weit schöner gewesen. Das ist offenbar zur Zeit das Prinzip bei Lumas. Es wirkt ein bißchen beliebig. Schade dann, wenn man nicht nur aus Sparsamkeit nichts kauft, sondern weil der Druck nicht wirklich gefällt, obwohl man das Motiv mag. Dabei gibt es dort auch Überzeugendes zu sehen. Hendrix und Jagger von Baron Wolman zum Beispiel. Und noch so manche andere Begegnung.

28. November 2010


Und Kürbissuppe. Immer Kürbissuppe. Fünfter Tag ohne Bordeaux, Côtes du Rhône etc. Keinerlei Entzugserscheinungen. Von dem liebgewonnenen Ritual abgesehen (man kann sich da auch hineinsteigern). Im Gegenteil. Freitag entgegnet Freundin S. auf mein Bekenntnis, schon sehr regelmäßig, also mehr oder weniger allabendlich, ein bis zwei Gläser Rotwein zu trinken, und meinen Einschub, dass diese Menge, also ein bis zwei Gläser ja immer wieder von Ärzten empfohlen würde, gut für’s Herz wäre usw. usf., „jahaha, aber das was da drin ist, was da wirkt, diese Gerbstoffe sind auch in rotem Traubensaft drin, meine Liebe. Also wenn es das ist…“ Ich mein Tun verteidigend: „Aber ich mag den Geschmack, ich würde den Wein auch ohne Alkohol trinken, nur Traubensaft schmeckt eben anders, schmeckt mir nicht so.“ Wie auch immer, drei Gläser sind zuviel. Ich hatte letzte Woche ein Drittes zu viel, es ging mir nicht gut, am nächsten Tag. Seitdem keine Lust mehr auf alkoholhaltige Getränke. Man schläft jedenfalls besser und wacht ganz ohne Eintrübung auf. Ich bin auf dem besten Weg zur Asketin. Wenn ich aufzähle, was ich seit geraumer Zeit sonst noch alles unterlasse, kriegen meine Leser Mitleid oder Minderwertigkeitskomplexe.

27. November 2010

Zurück zum Bahnhof. Zurück nach Berlin. Beim Verlassen des Dorfes fällt mir dieses seltsame sechseckige, mannshohe steinerne Bauwerk auf. Mit schmalen Löchern wie Schießscharten. Gerade, dass man durchgucken kann. Ich sehe aber keinen Eingang. Ich komme nicht dahinter, was es für einen Zweck haben kann. Oder vielmehr hatte. Am Ehesten denke ich an einen Unterstand für einen Wachmann, aber warum diese seltsame Bauweise. Zuhause lese ich im Internet in einem Bericht über das Olympische Dorf das Wort Einmann-Bunker. Ein Einmann-Bunker für einen Wachmann? Oder für jemanden der es bei Fliegeralarm nicht bis zum großen Bunker schaffen konnte? Sicher gibt es auch irgendwo in der Nähe einen großen Luftschutzbunker. Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Derselbe Weg zurück zum Bahnhof von Elstal ist schöner als hinwärts, weil das Licht jetzt ganz weich auf die Blätter fällt, die schon ein bißchen anfangen, sich zu verfärben. Grün zu gelb. Gelb zu Orange. Orange zu Rot. Das erste mal im Jahr sehe ich Herbst. Neben einem Strauch liegen Mirabellen im Laub. Ich hebe eine auf, stecke sie in die Tasche.

Ein alleinstehender Baum auf einer weiten Ebene. Er ist zu weit entfernt um zu erkennen, was für einer es ist. Nah beim Bahnhof ein kleines Wäldchen junger Essigbäume vor einem verfallenden Haus. Alte ausrangierte Gleise liegen herum. Eine rostige Tonne, leere Flaschen. Ein seltsamer Findling mit altem Moos. Drei Jungs, die nichts genaues vorhaben, streunen herum. Sonst ist es einsam vor dem Bahnhof. Da ist er wieder, der Turm, den man immer wieder sieht. Der Wasserturm von Elstal, 1920 erbaut, lese ich später. Am Bahnsteig gibt es zwei Fahrtrichtungen. Auf der rechten Seite steht auf einem Schild Richtung Berlin. Auf der anderen Seite ist kein Schild, es gibt kein Pendant, vermutlich weil zu viele verschiedene Zielorte in Frage kämen. Da braucht man gar nicht erst anfangen. Oben auf der Eisenbrücke über den Gleisen wartet ein älterer Mann auf den Sonnenuntergang. Älter ist immer eine Generation älter als man selber. Seine Kamera hat ein großes Objektiv. Später sehe ich noch zwei Fahrradfahrer mit ihren Rädern, da oben im Gegenlicht. Es ist noch viel Zeit, bis wieder ein Zug nach Berlin kommt. Die Batterien der Kamera geben nur noch wenige Bilder her. Dann geht sie einfach aus. Ich habe auch ein Buch dabei zum Lesen, vielleicht Dorfpunks von Rocko Schamoni. Die einzige Bank liegt schon im Schatten, die Sonne geht an einer anderen Stelle unter. Ich finde einen letzten Sonnenfleck und setzte mich auf den asphaltierten Bahnsteig. Mein langer Ledermantel hält das schon aus. Die Nasenspitze wird wieder ein bißchen wärmer. Gut, dass ich Handschuhe dabei habe, die kann man schon vertragen, Anfang Oktober, am Abend. Die Mirabelle ist noch nicht reif. Ganz sauer. Der Mann mit der Kamera kommt die Gittertreppe von der Brücke herunter auf den Bahnsteig. Wenig später eine Mutter mit ihrem kleinen Jungen. Zeichen, dass bald ein Zug kommt. Die Mutter lässt den Gummidinosaurier des Kindes sprechen und zubeißen. Der Kleine lacht glucksend. Ich denke ein bißchen traurig daran, wie selten man sieht, dass Eltern ein Kind nicht nur bewachen und anleiten, sondern mit ihm spielen. Albernes Zeug, aus Spaß an der Freud. Ohne Lernziel. Wie die beiden. Da kommt der Zug. Ich freue mich, dass er am Alexanderplatz hält, da muss ich nicht umsteigen, kann gleich in meine U8 zur Weinmeisterstraße fallen. Auf der Rolltreppe nach unten zur U-Bahn fällt mir plötzlich ein, dass heute ein Feiertag war. Der 3. Oktober. Und dass ich ihn würdevoll begangen habe, obwohl das nicht die Absicht war. Bahnhof Weinmeisterstraße. Ausgang Gipsstraße. An den blauen Kacheln vorbei, die windige Treppe nach oben. Warten an der Ampel. Gleich bin ich zuhause.
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Elstal X Departure

25. November 2010

Schwer zu sagen, wie lange ich keine Sporthalle betreten habe. Fitness-Studios kenne ich nur von außen, obwohl ich den gewaltigen Muskel-Aufbau-Geräten, die es dort geben soll, Sympathie entgegenbringe. Der letzte Sportunterricht meines Lebens fand vor ungefähr dreissig Jahren statt. Leibesertüchtigung unter Aufsicht zählte zu meinen absoluten Hassfächern. Beim Kopfstand rutschten die Arme weg und mir wurde schwarz vor Augen, ich wurde halb ohnmächtig. Ich hatte keinen Bock auf Bockspringen und Reckübungen. Ich hasste Geräteturnen. Ich hasste Ballspiele, bei denen es vor allem darum zu gehen schien, sich gegenseitig zu bombardieren oder jemandem den Ball abzujagen. So kam es mir vor. Handball war Krieg. Wurde man schmerzhaft vom Ball getroffen, wurde schadenfroh wiehernd gelacht. Aber Tischtennis und Federballspielen gefiel mir. Und Schwimmen. Und Radfahren. Und Wandern. Und Tanzen. Aber diese Bewegungsmöglichkeiten waren leider nicht im Unterrichtsplan vertreten. Wobei es gut sein kann, dass mir die didaktische Aufbereitung dieser Sportarten, die Freude daran verleidet hätte. Manchmal habe ich Lust durch ein Stück Wald zu rennen. Aber nicht als Dauerlauf, nur ein kleines Stückchen aus Übermut. Man muss die Gelenke auch schonen.

Der Geruch der Turnmatten ist mir noch diffus in Erinnerung. Die graublauen Matten rochen immer komisch, so ähnlich wie Gummireifen. Und die lederbespannten Geräte. Und der Kraut- und Rüben-Schweißgeruch halbwüchsiger Mädchen in Lycra-Trikots. Leider unvergesslich, das gemeinschaftliche Zwangsduschen, das mir immer peinlich war. Das Vergleichen von Schamhaarwuchs und Körbchengröße. Die Bemerkungen. Ich hasste es. Wenn ich daran denke, hasse ich es wieder. Nichts auf der Welt könnte mich jemals wieder dazu bringen, mich gemeinsam mit anderen in einem Gruppenduschraum zu duschen. Nicht für Geld und gute Worte. Zu intim. Die Monatsblutung war als Ausrede willkommen, wenn der Sportunterricht anstand. Man durfte am Rand der Halle sitzen und zuschauen, musste sich nicht verbiegen oder verbiegen lassen. Nach keiner Stoppuhr herumtrampeln. Und auch das Duschen fiel dann weg. Bundesjugendspiele. Weitspringen, Hochspringen. Wettrennen. Alles furchtbar. Ich mochte die ganze Atmosphäre nicht, dieses Gedrillte, das Zackige, die kratzigen Turnhosen, die ganze kratzige Unpoesie. Alles.
Ich war weit weg. Vielleicht bei dem Buch, das ich gerade las und lieber weitergelesen hätte. Oder bei dem Jungen, in den ich heimlich verliebt war und der es nie erfahren würde, auf keinen Fall von mir. Ich weilte auf meiner Schäfchenwolke ohne Trillerpfeife. Meine Angst vor dem Geräteturnen. Ich hatte Furcht mich zu stoßen, zu stolpern, abzurutschen, hinzufallen, hängenzubleiben, mich zu blamieren. Die Böcke, Kästen und Stangen waren potenzielle Gefahrenträger. Innere und äußere Gefahr. Ich wurde auch gerne verlacht. Weil ich nicht daran glaubte, dass ich irgendetwas in dieser Hinsicht gut könnte und so kam es. Jedesmal. Ich hatte Schweißausbrüche vor Angst, wenn ich dran war. Ich war das einzige Schulkind, das jemals eine fünf oder sechs in Sport im Zeugnis hatte. Inzwischen weiß ich, dass ich nicht gut an die Sache herangeführt wurde. Ich sperre mich gegen Appelle, Befehle, Imperativ. Darauf reagiere ich hochallergisch, da ist sofort der Ofen aus. Auch heute noch. Wer sich herausnimmt, mit mir im Imperativ zu reden, lernt ganz schnell, dass das nur einmal passiert. Da geht ein Messer auf.
Ich will ins Licht rücken, warum Turnhallen und ich nicht die dicksten Freunde sind. Man sollte aufgrund dieser umfangreichen Bildstrecken nicht denken, ich würde mich besonders für Olympia interessieren. Spannend, ja aufregend fand ich das Entfachen der olympischen Flamme, die vielen Völker bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu sehen, wie sie stolz die bunten Fahnen ihres Landes trugen und dabei strahlten. In solchen Momenten kriege ich feuchte Augen. Und auch die Rührung bei den Siegerehrungen. Die Nationalhymnen zu hören, die Überwältigung der Athleten, die Tränen. Den Jubel der Menschen. Die Freundschaft der Völker. Zwischen diesen rituellen Eckpfeilern hätten auch ganz andere Dinge stattfinden können. Zum Beispiel eine Bäcker- oder Blumen-Olympiade. Wegen mir hätte keiner rennen müssen. Inzwischen bringe ich Sportlern mehr Respekt entgegen. Ich finde es gesund, wenn jemand sehr frühzeitig sportliche Bewegung in sein Leben integriert, es selbstverständlich und bis ins hohe Alter praktiziert. Das ist absolut empfehlenswert. Ich gehe gerne, ich mag rumlaufen, auch lange Wege. Besonders wenn das Wetter mild ist. Das liebe ich. Trainierte Körper sehen einfach besser aus. Unvergleichlich. Ich finde Männer sollen ruhig mit Hanteln herumspielen und alles mögliche machen, Fußball spielen, ins Sportstudio gehen. Frauen natürlich auch. Zu meiner Überraschung war ich gerne in der Sporthalle in Elstal, trotz meiner traumatischen Biographie. Die Turnhallen meiner Kindheit und Jugend waren fensterlos.
Die Sporthalle in Elstal gewährt einen weiten Blick ins Grüne. Vielleicht war das auch die Möglichkeit, Frieden mit dieser Sache zu schließen. Ich habe das einst Nazi-infiltrierte Sportlerdorf mit ungehorsamen Geist aufgeladen. Wer jetzt nach Elstal und dem Olympischen Dorf sucht, stolpert über meine unsportlichen Berichte. Das gefällt mir. Man muss die Dinge für seine Zwecke vereinnahmen. Sie war mein letztes Erlebnis, die Sporthalle im Olympischen Dorf von 1936. Zu Beginn fiel sie mir gar nicht auf. Sie steht rechts vom Eingang. Eigentlich wollte ich schon gehen, aber da sah ich plötzlich diese Halle, die von der breiten Seite ein bißchen nach Mies van der Rohe aussieht. Von der schmalen Seite des Eingangs wirkt sie eher wie eine elegantere Scheune. Der schöne Holzboden gefiel mir. Und das alte Pferd war gleich mein Freund. Dieses zerschlissene alte Ding. Das zerrissene, fein genähte Leder, die gepolsterten Schichten darunter. Wie ein verletztes rotes Tier stand es da. Eine kleine Galerie von Plakaten vergangener Spiele aus aller Welt. Eine Vitrine mit Programmheften, alten Fotos, einer „Illustrirten“, einem im olympischen Dorf abgestempelten Brief an eine Adresse in Brooklyn, N.Y. Seltsame Rührung. Und die olympischen Ringe. Ich habe so gut wie alles gesehen, was man ohne Gruppenführung sehen konnte. Vielleicht fahre ich eines schönen Tages wieder nach Elstal und finde dann die aufgebaute Bastion vor, und den Waldsee, und im Hindenburghaus kann man ein- und ausgehen und alte Olympia-Filme gucken. Im Speisehaus der Nationen gibt es dann Spezialitäten aus 43 Ländern. Und Russischen Kaffee. Und draußen nur Kännchen.
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Elstal IX Sporthalle

19. November 2010




Ich hatte zu wenig gelesen, bevor ich loszog, um sofort zu wissen, wofür diese bizarr verrottende Plattensiedlung auf dem Gelände des Olympischen Dorfes gebaut wurde. Ich ließ mich treiben und sah plötzlich verlassene Mietskasernen ohne Fensterscheiben. Man konnte bunte Kacheln erkennen und in frohen Farben gestrichene, verbleichende Wände, bröckelnde Farbschichten. Durchblicke zu den weiter entfernten Bäumen. Lichtreflexe, so kraftvoll, dass ich einen Moment bedauerte, alleine da zu sein. Ich hätte gerne jemanden an die Wand gestellt und abgeschossen. Man wäre einfach durch die Fenster eingestiegen und hätte das letzte Sommerlicht auf einem Gesicht eingefangen, einer maigrünen oder blauen Wand. Tiefes Blau mit Weiß wie auf Postkarten aus Santorin. Griechenland spielen oder Portugal. Und Zitronengelb, verwaschen vom Regen. Himmel arizonablau. Ich lese später, dass es Unterkünfte für die Offiziere der russischen Armee und deren Angehörige waren. Man hat gar nicht so viel Gelegenheit, Verfall an unspektakulären Bauten zu studieren, weil sie meistens abgerissen werden, bevor sich diese wunderlichen Dinge einstellen. Wenn ich es recht erinnere, zogen die sowjetischen Truppen 1993 ab. Siebzehn Jahre. In dieser Stunde war das Licht am schönsten.
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Elstal III Russische Armeeunterkünfte

23. November 2010


„Den stilistischen Ideen des Bauhauses verpflichtet zeigte sich das Speisehaus der Nationen mit seinen 38 für die verschiedenen Nationen bestimmten Speisesälen und Küchen. Die Modernität des Zweckbaus wurde durch die Einsenkung in das ansteigende Gelände — ein Verfahren, das March schon beim Olympiastadion angewandt hatte — in seiner Wucht gemildert und der umgebenden Landschaft harmonischer eingefügt.“
Ein großes Auge aus der Luft. Haus Berlin hieß es ja eigentlich, das Speisehaus der Nationen. Kommt man dem unteren Wimpernbogen näher, eine weich geschwungene, rundumlaufende Veranda. Man wundert sich gleich, dass es keine Tische und Stühle gibt, kein Draußen-nur-Kännchen-Angebot, kein Kuchenbuffet, das man schon durch die offene Glastür glitzern sieht. Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte auf Papierspitzendeckchen, silberne Tortenheber. Was für ein schönes Café wäre das. Immer wieder sieht man statt Fensterscheiben Holzbretter. Samtig brauner Bretterverhau. Besonders im Innenhof, im Inneren des Auges. Da scheinen besonders viele Scheiben zu Bruch gegangen zu sein. Wahrscheinlich die billigste Variante, das Innere des denkmalgeschützten Prachtenwurfs vor Wind und Wetter zu schützen. Vor Einbruch, vor Verwüstung. Einst weiß verputzte Steinbänke. Ich lese die riesigen Banner mit den Leitsätzen (und meinem Lieblings-Leitsatz Nr. 6: „Du bist jung, schaffe dir schöne Erinnerungen!“), mit der Speisekarte, mit dem Lebensmittelverbrauch. So alt ist Ovomaltine schon. Ich dachte, das wäre ein Pulvergetränk aus den Siebzigern. Mein Bruder mochte das gerne. Ich nicht. Mir war es zu malzig und zuckrig. Ich mochte lieber Kaba und Nesquik. Und amerikanische Cerealien haben sie auch schon zum Frühstück gegessen, die Sportler. Bei Cerealien dachte ich wiederum lange Zeit, das Wort wäre eine dieser neueren Erfindungen der Werbeindustrie, um irgendwelchen neu zusammengeschusterten Lebensmitteln den Anstrich von wissenschaftlich geprüfter Qualität zu geben. Zu meiner Zeit hat man jedenfalls nicht von Cerealien geredet. Da gab es Kellog’s Corn Flakes und Haferflocken und irgendwann später Fertig-Müsli. Bums, fertig. Und Joghurt ohne Drehwurm und probiotisches Gedöns. Aber ich schweife ab. Wenn ich die Bilder sehe, erkenne ich deutlich, dass ich dann irgendwann zu faul war, die Strecke auszumisten. Diese endlosen Wiederholungen dieses Speiseplan-Banners und der Bogen des Dachs vom Innenhof. Da hätten auch zwei Bilder gereicht. Na ja. Aber nun ist es drin. Hat auch was Hypnotisches mitunter. Nutzen Sie einfach die Gelegenheit zu einer morgendlichen Meditation über die schier unendlichen Möglichkeiten, das Licht in einer gewissen Ecke einer Steinbank einzufangen. Lange saß ich da. Schloss die Augen, blinzelte in die Nachmittagssonne. Noch war es warm. Ich zog meinen Ledermantel aus. Ich dachte, ein guter Platz für eine Rast, um meinen Proviant hervorzuholen. Und während ich im Speisehaus der Nationen aß, in aller Ruhe meine hartgekochten Eier und Äpfel und so weiter verdrückte, ließ ich den Blick schweifen. stellte ich mir vor, wie es damals war. Als die Fenster noch Scheiben hatten, alles neu war, modern und voller Leben. Das babylonische Sprachgewirr, das Klappern des Geschirrs und der Bestecke.

Diese aufgestellten alten Fotos im Innenhof rührten irgendetwas bei mir an. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kriege so eine ganz leichte Gänsehaut, wenn ich die bunten Gesichter der vielen Völker sehe, so guter Dinge an gut gedeckten Tischen, mit dem Geist von Völkerverständigung im Herzen. Ganz naiv, ganz friedlich. In guter Absicht. Es hätte alles so friedlich bleiben können. Da war auch die Begegnung mit jenem Fotografen, die ich erwähnte. Und mit der vorbeiwandernden Gruppe, die aber erst nach einer guten halben Stunde kam. So lange saß ich da in der Sonne und schaute, was sie da trieb, auf den alten Wänden, dem alten Putz.
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Elstal VII Speisehaus der Nationen

24. November 2010

Es erscheint mir nur angemessen, der einzigen Bewohnerin des Olympischen Dorfes in Elstal, die ich persönlich kennenlernen durfte, eine eigene Bildstrecke zu widmen. Ich vermute, dass ihre Familie auch irgendwo dort lebt, aber sie selbst scheint ein sehr eigenständiges, unabhängiges Leben zu führen. Hildegard Knef sang einst „Ein Zufall, sagten wir mal, ein Zufall hat uns zusammengeführt. Das Schicksal, sagen wir heut, (…) hat uns leider/wieder (?) getrennt.“ Ich fand es schon bemerkenswert, dieses Aufeinandertreffen von zwei verwandten Seelen, die sich zur exakt selben Minute an exakt derselben Stelle einen möglichst einsamen Platz an der Sonne suchten. Ihr Name ist Pyrrhocoris Apterus. Ich wusste das aber nicht von ihr persönlich, sondern weil ich später zuhause nach ihr gegoogelt habe. Sie ist ziemlich bekannt und wird auch ganz schön oft fotografiert. Im deutschsprachigen Raum hat sie keinen so guten Ruf, zumindest wenn man an den Namen denkt, den man ihr hier in Deutschland verpasst hat, und mit dem sie ständig aufgezogen wird und nun zu leben hat. Ich wollte ihr die Ehre erweisen, weil ich sie besonders schön und anmutig finde und weil ich es so gut verstehen konnte, dass sie sich eine kleine windgeschützte Kuhle in der Steinbank ausgesucht hatte, für ihr Sonnenbad. Ich überlegte dauernd, ob sie vielleicht afrikanische Vorfahren haben könnte, weil mich ihre Kriegsbemalung an wilde Zulumasken erinnerte. Aber wie kam sie oder ihre Familie nach Europa, nach Elstal? Ist sie den ganzen Weg von Südafrika zu Fuß gelaufen? Oder per Autostopp? Und wie lange mag sie unterwegs gewesen sein? Vielleicht war sie ja auch nur zum Ausflug in Elstal, weil sie darüber im Internet gelesen hat und lebt in Wirklichkeit im fernen Pretoria oder sogar in Berlin. Womöglich gar bei mir um die Ecke, und hat nur ein bißchen Rast gemacht, genau wie ich, bevor sie zur großen Rückreise aufbrechen musste. Wir hatten beide keine richtige Lust zu reden, aber das war ganz in Ordnung, denn wir verstanden uns auch ohne Worte. Liebe Pyrrie, ich hoffe, es geht dir gut und du bist wohlbehalten zuhause angekommen, wo immer das auch ist.

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Elstal VIII Pyrrhocoris apterus

22. November 2010


Ach ja. Die Unterkünfte der Athleten. Nicht innen. Also nicht Athletinnen. Der Brandenburger Hobby-Historiker Hans-Ulrich Rhinow aus Falkensee schreibt dazu auf seiner Internet-Seite:
„Mit einer Ausnahme (Hindenburghaus), trugen alle Gebäude Namen deutscher Städte in einer Anordnung innerhalb des Dorfes, die etwa der geographischen Lage der jeweiligen Stadt in Deutschlands Grenzen entsprach. Die Unterkünfte der männlichen Sportler hier in Elstal waren heutigen Erwartungen gegenüber spartanisch einfach. Rechts und links des Mittelganges lagen die einzelnen Doppelzimmer, schlicht mit zwei Betten und zwei Nachttischen und einem Schrank möbliert. An den Wänden waren die von den Städten gestifteten rd. 4000 Bilder als einziger Schmuck angebracht. Die Sportler durften je ein Bild zu ihrer Erinnerung an die Spiele mitnehmen. Jedes Haus besaß eine zentrale Toilette, eine Duscheinrichtung, eine kleine Küche und einen Abstellraum für Koffer und Geräte. In jedem Haus stand für die Betreuung der rd. 30 Sportler ein deutscher junger Offizier zur Verfügung, der während der Spiele dort auch in einem eigenen Raum untergebracht war. Im Bereich des Olympischen Dorfes gab es auch ein Ärztehaus und ein Krankenhaus. Übrigens waren die Athletinnen separat in Berliner Unterkunftsräumen einquartiert.“
Erlauben Sie mir hier etwas zu ergänzen, lieber Herr Rhinow. Auf einer Schautafel habe ich gelesen, es gab in jeder Sportlerunterkunft sogar ein eigenes Münztelephon! Wie aufregend, für das Fräulein vom Amt! Die vielen Ferngespräche nach Übersee! Aber dafür wissen Sie noch viel mehr andere tolle Sachen mehr als ich. Wie die Sache mit den ersten Fernsehdirektübertragen ins Hindenburghaus funktionierte, zum Beispiel. (…) „Dazu zählten neben einem Theatersaal auch ein Fernsehraum, in dem die sportlichen Ereignisse aus dem Stadion zeitversetzt um 2 Minuten mit früher moderner Technik dargeboten wurden. Es dauerte nämlich 2 Minuten, bis die Filme im Schnellverfahren entwickelt waren und in den Projektor hineinliefen.“(…)
Wo anders liest man zum Verbleib der weiblichen Teilnehmerinnen noch konkreter, dass die Athletinnen in Hotels in der Nähe vom Olympiastadion untergebracht waren. Wie auch immer. Ich hatte eigentlich inzwischen mehr oder weniger vergessen, dass die idyllische Ansiedlung irgendetwas mit Sport und Olympia zu tun hatte. Die Luft war so klar und der Himmel so weit und die Häuschen der Sportler kamen mir vor wie kleine Ferienhäuschen. Ich dachte an alle möglichen Ingmar Bergman-Filme in abgeschiedenen skandinavischen Landschaften und „Ich denke oft an Piroschka“, diesen alten Schinken mit Lilo Pulver, den ich als Kind immer wieder gerne mit meinem Opa geschaut habe. Praktisch jedes Jahr. Wegen Lilo und den Gänsen und der Zigeunermusik, nicht wegen dem dünnen blassen jungen Mann (Eisenmangel!), der mich gar nicht interessiert hat. In Ostp Litauen war auch manchmal so eine Piroschka-Stimmung. Das hat was mit Landschaft und Gänsen und Barfußlaufen zu tun. Kann ich nicht so richtig erklären.
Das einzige Häuschen mit offener Tür, aber sicher nicht das einzige mit originalem Verrottungsstadium von siebzig Jahren, hat die skandinavische Ferienidylle dann auf interessante Art etwas variiert – mir fällt nicht das passende Wort ein. Wenn Sie ein besseres wissen, immer in die Kommentare. Das war schon auch sehr sehenswert. Hab ich ja schon erzählt. Dagegen der Durchblick, den man auf dem einen Foto durch die Scheibe von der Terrasse aus sieht, mit ordentlichen Rattan-Sesselchen um einen Tisch, ist der Zustand des bislang einzigen, kürzlich renovierten Athletenhäuschens. Es ist das Häuschen, in dem der Superstar dieser olympischen Sommerspiele, Jesse Owens untergebracht war, und vor dem sogar das Star-Spangled Banner weht, wenn ich mich recht erinnere. Was mich auch noch mächtig beeindruckt hat, waren die Naturstein-Terrassen. Was für schöne Steine. So etwas sieht man sonst in Hollywoodfilmen, in diesen Alfred Hitchcock-Villen, in denen subtil blondierte Grace Kellys mit Hochsteckfrisur und Twinset in schlimme Machenschaften verstrickt sind.
Die Häuschen fügen sich wirklich schön in die Landschaft ein, mit den Birken und Wiesen. Da darf man nicht meckern. Ganz friedlich sehen sie aus, die streichsanierten Sportlerunterkünfte von Elstal. Streichsaniert, das Wort hab ich zum ersten Mal 1999 gehört, als ich auf Wohnungssuche war. Da hat irgendein Vormieter bei einer Besichtigung in der Nähe vom damals noch etwas beliebteren Kollwitzplatz gelästert, was die hier gerade überall machen und als top saniert mit überzogenen Mieten loswerden wollen, ist doch in Wahrheit nur mal eben Löcher zugeschmiert und übergestrichen, streichsaniert! Ich hab das schon auch gemerkt. So dahingeschlunzt. Da wollte ich auch unbedingt nicht hin. Ich bin ja nicht blöd. Also die Sportlerhäuschen sind wohl auch irgendwann mal weiß übergepinselt worden, macht ja schon auch was her, so von außen. Zu Olympiazeiten waren sie nämlich hellgelb. Ich merke, ich bin ein bißchen zu müde, um etwas Gescheites zu schreiben, weil ich so abschweife. Also mir gefallen die Sportlerunterkünfte, deswegen hab ich auch so furchtbar viele Fotos von allen Seiten gemacht, die bestimmt schnell langweilig werden, wenn man nicht selber da war. Aber der Himmel war so schön blau. Und Ingmar Bergman. Und Piroschka. Und überhaupt.

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Elstal VI Sportlerunterkünfte

24. November 2010

Es erscheint mir nur angemessen, der einzigen Bewohnerin des Olympischen Dorfes in Elstal, die ich persönlich kennenlernen durfte, eine eigene Bildstrecke zu widmen. Ich vermute, dass ihre Familie auch irgendwo dort lebt, aber sie selbst scheint ein sehr eigenständiges, unabhängiges Leben zu führen. Hildegard Knef sang einst „Ein Zufall, sagten wir mal, ein Zufall hat uns zusammengeführt. Das Schicksal, sagen wir heut, (…) hat uns leider/wieder (?) getrennt.“ Ich fand es schon bemerkenswert, dieses Aufeinandertreffen von zwei verwandten Seelen, die sich zur exakt selben Minute an exakt derselben Stelle einen möglichst einsamen Platz an der Sonne suchten. Ihr Name ist Pyrrhocoris Apterus. Ich wusste das aber nicht von ihr persönlich, sondern weil ich später zuhause nach ihr gegoogelt habe. Sie ist ziemlich bekannt und wird auch ganz schön oft fotografiert. Im deutschsprachigen Raum hat sie keinen so guten Ruf, zumindest wenn man an den Namen denkt, den man ihr hier in Deutschland verpasst hat, und mit dem sie ständig aufgezogen wird und nun zu leben hat. Ich wollte ihr die Ehre erweisen, weil ich sie besonders schön und anmutig finde und weil ich es so gut verstehen konnte, dass sie sich eine kleine windgeschützte Kuhle in der Steinbank ausgesucht hatte, für ihr Sonnenbad. Ich überlegte dauernd, ob sie vielleicht afrikanische Vorfahren haben könnte, weil mich ihre Kriegsbemalung an wilde Zulumasken erinnerte. Aber wie kam sie oder ihre Familie nach Europa, nach Elstal? Ist sie den ganzen Weg von Südafrika zu Fuß gelaufen? Oder per Autostopp? Und wie lange mag sie unterwegs gewesen sein? Vielleicht war sie ja auch nur zum Ausflug in Elstal, weil sie darüber im Internet gelesen hat und lebt in Wirklichkeit im fernen Pretoria oder sogar in Berlin. Womöglich gar bei mir um die Ecke, und hat nur ein bißchen Rast gemacht, genau wie ich, bevor sie zur großen Rückreise aufbrechen musste. Wir hatten beide keine richtige Lust zu reden, aber das war ganz in Ordnung, denn wir verstanden uns auch ohne Worte. Liebe Pyrrie, ich hoffe, es geht dir gut und du bist wohlbehalten zuhause angekommen, wo immer das auch ist.

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Elstal VIII Pyrrhocoris apterus

23. November 2010


„Den stilistischen Ideen des Bauhauses verpflichtet zeigte sich das Speisehaus der Nationen mit seinen 38 für die verschiedenen Nationen bestimmten Speisesälen und Küchen. Die Modernität des Zweckbaus wurde durch die Einsenkung in das ansteigende Gelände — ein Verfahren, das March schon beim Olympiastadion angewandt hatte — in seiner Wucht gemildert und der umgebenden Landschaft harmonischer eingefügt.“
Ein großes Auge aus der Luft. Haus Berlin hieß es ja eigentlich, das Speisehaus der Nationen. Kommt man dem unteren Wimpernbogen näher, eine weich geschwungene, rundumlaufende Veranda. Man wundert sich gleich, dass es keine Tische und Stühle gibt, kein Draußen-nur-Kännchen-Angebot, kein Kuchenbuffet, das man schon durch die offene Glastür glitzern sieht. Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte auf Papierspitzendeckchen, silberne Tortenheber. Was für ein schönes Café wäre das. Immer wieder sieht man statt Fensterscheiben Holzbretter. Samtig brauner Bretterverhau. Besonders im Innenhof, im Inneren des Auges. Da scheinen besonders viele Scheiben zu Bruch gegangen zu sein. Wahrscheinlich die billigste Variante, das Innere des denkmalgeschützten Prachtenwurfs vor Wind und Wetter zu schützen. Vor Einbruch, vor Verwüstung. Einst weiß verputzte Steinbänke. Ich lese die riesigen Banner mit den Leitsätzen (und meinem Lieblings-Leitsatz Nr. 6: „Du bist jung, schaffe dir schöne Erinnerungen!“), mit der Speisekarte, mit dem Lebensmittelverbrauch. So alt ist Ovomaltine schon. Ich dachte, das wäre ein Pulvergetränk aus den Siebzigern. Mein Bruder mochte das gerne. Ich nicht. Mir war es zu malzig und zuckrig. Ich mochte lieber Kaba und Nesquik. Und amerikanische Cerealien haben sie auch schon zum Frühstück gegessen, die Sportler. Bei Cerealien dachte ich wiederum lange Zeit, das Wort wäre eine dieser neueren Erfindungen der Werbeindustrie, um irgendwelchen neu zusammengeschusterten Lebensmitteln den Anstrich von wissenschaftlich geprüfter Qualität zu geben. Zu meiner Zeit hat man jedenfalls nicht von Cerealien geredet. Da gab es Kellog’s Corn Flakes und Haferflocken und irgendwann später Fertig-Müsli. Bums, fertig. Und Joghurt ohne Drehwurm und probiotisches Gedöns. Aber ich schweife ab. Wenn ich die Bilder sehe, erkenne ich deutlich, dass ich dann irgendwann zu faul war, die Strecke auszumisten. Diese endlosen Wiederholungen dieses Speiseplan-Banners und der Bogen des Dachs vom Innenhof. Da hätten auch zwei Bilder gereicht. Na ja. Aber nun ist es drin. Hat auch was Hypnotisches mitunter. Nutzen Sie einfach die Gelegenheit zu einer morgendlichen Meditation über die schier unendlichen Möglichkeiten, das Licht in einer gewissen Ecke einer Steinbank einzufangen. Lange saß ich da. Schloss die Augen, blinzelte in die Nachmittagssonne. Noch war es warm. Ich zog meinen Ledermantel aus. Ich dachte, ein guter Platz für eine Rast, um meinen Proviant hervorzuholen. Und während ich im Speisehaus der Nationen aß, in aller Ruhe meine hartgekochten Eier und Äpfel und so weiter verdrückte, ließ ich den Blick schweifen. stellte ich mir vor, wie es damals war. Als die Fenster noch Scheiben hatten, alles neu war, modern und voller Leben. Das babylonische Sprachgewirr, das Klappern des Geschirrs und der Bestecke.

Diese aufgestellten alten Fotos im Innenhof rührten irgendetwas bei mir an. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kriege so eine ganz leichte Gänsehaut, wenn ich die bunten Gesichter der vielen Völker sehe, so guter Dinge an gut gedeckten Tischen, mit dem Geist von Völkerverständigung im Herzen. Ganz naiv, ganz friedlich. In guter Absicht. Es hätte alles so friedlich bleiben können. Da war auch die Begegnung mit jenem Fotografen, die ich erwähnte. Und mit der vorbeiwandernden Gruppe, die aber erst nach einer guten halben Stunde kam. So lange saß ich da in der Sonne und schaute, was sie da trieb, auf den alten Wänden, dem alten Putz.
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Elstal VII Speisehaus der Nationen

22. November 2010


Ach ja. Die Unterkünfte der Athleten. Nicht innen. Also nicht Athletinnen. Der Brandenburger Hobby-Historiker Hans-Ulrich Rhinow aus Falkensee schreibt dazu auf seiner Internet-Seite:
„Mit einer Ausnahme (Hindenburghaus), trugen alle Gebäude Namen deutscher Städte in einer Anordnung innerhalb des Dorfes, die etwa der geographischen Lage der jeweiligen Stadt in Deutschlands Grenzen entsprach. Die Unterkünfte der männlichen Sportler hier in Elstal waren heutigen Erwartungen gegenüber spartanisch einfach. Rechts und links des Mittelganges lagen die einzelnen Doppelzimmer, schlicht mit zwei Betten und zwei Nachttischen und einem Schrank möbliert. An den Wänden waren die von den Städten gestifteten rd. 4000 Bilder als einziger Schmuck angebracht. Die Sportler durften je ein Bild zu ihrer Erinnerung an die Spiele mitnehmen. Jedes Haus besaß eine zentrale Toilette, eine Duscheinrichtung, eine kleine Küche und einen Abstellraum für Koffer und Geräte. In jedem Haus stand für die Betreuung der rd. 30 Sportler ein deutscher junger Offizier zur Verfügung, der während der Spiele dort auch in einem eigenen Raum untergebracht war. Im Bereich des Olympischen Dorfes gab es auch ein Ärztehaus und ein Krankenhaus. Übrigens waren die Athletinnen separat in Berliner Unterkunftsräumen einquartiert.“
Erlauben Sie mir hier etwas zu ergänzen, lieber Herr Rhinow. Auf einer Schautafel habe ich gelesen, es gab in jeder Sportlerunterkunft sogar ein eigenes Münztelephon! Wie aufregend, für das Fräulein vom Amt! Die vielen Ferngespräche nach Übersee! Aber dafür wissen Sie noch viel mehr andere tolle Sachen mehr als ich. Wie die Sache mit den ersten Fernsehdirektübertragen ins Hindenburghaus funktionierte, zum Beispiel. (…) „Dazu zählten neben einem Theatersaal auch ein Fernsehraum, in dem die sportlichen Ereignisse aus dem Stadion zeitversetzt um 2 Minuten mit früher moderner Technik dargeboten wurden. Es dauerte nämlich 2 Minuten, bis die Filme im Schnellverfahren entwickelt waren und in den Projektor hineinliefen.“(…)
Wo anders liest man zum Verbleib der weiblichen Teilnehmerinnen noch konkreter, dass die Athletinnen in Hotels in der Nähe vom Olympiastadion untergebracht waren. Wie auch immer. Ich hatte eigentlich inzwischen mehr oder weniger vergessen, dass die idyllische Ansiedlung irgendetwas mit Sport und Olympia zu tun hatte. Die Luft war so klar und der Himmel so weit und die Häuschen der Sportler kamen mir vor wie kleine Ferienhäuschen. Ich dachte an alle möglichen Ingmar Bergman-Filme in abgeschiedenen skandinavischen Landschaften und „Ich denke oft an Piroschka“, diesen alten Schinken mit Lilo Pulver, den ich als Kind immer wieder gerne mit meinem Opa geschaut habe. Praktisch jedes Jahr. Wegen Lilo und den Gänsen und der Zigeunermusik, nicht wegen dem dünnen blassen jungen Mann (Eisenmangel!), der mich gar nicht interessiert hat. In Ostp Litauen war auch manchmal so eine Piroschka-Stimmung. Das hat was mit Landschaft und Gänsen und Barfußlaufen zu tun. Kann ich nicht so richtig erklären.
Das einzige Häuschen mit offener Tür, aber sicher nicht das einzige mit originalem Verrottungsstadium von siebzig Jahren, hat die skandinavische Ferienidylle dann auf interessante Art etwas variiert – mir fällt nicht das passende Wort ein. Wenn Sie ein besseres wissen, immer in die Kommentare. Das war schon auch sehr sehenswert. Hab ich ja schon erzählt. Dagegen der Durchblick, den man auf dem einen Foto durch die Scheibe von der Terrasse aus sieht, mit ordentlichen Rattan-Sesselchen um einen Tisch, ist der Zustand des bislang einzigen, kürzlich renovierten Athletenhäuschens. Es ist das Häuschen, in dem der Superstar dieser olympischen Sommerspiele, Jesse Owens untergebracht war, und vor dem sogar das Star-Spangled Banner weht, wenn ich mich recht erinnere. Was mich auch noch mächtig beeindruckt hat, waren die Naturstein-Terrassen. Was für schöne Steine. So etwas sieht man sonst in Hollywoodfilmen, in diesen Alfred Hitchcock-Villen, in denen subtil blondierte Grace Kellys mit Hochsteckfrisur und Twinset in schlimme Machenschaften verstrickt sind.
Die Häuschen fügen sich wirklich schön in die Landschaft ein, mit den Birken und Wiesen. Da darf man nicht meckern. Ganz friedlich sehen sie aus, die streichsanierten Sportlerunterkünfte von Elstal. Streichsaniert, das Wort hab ich zum ersten Mal 1999 gehört, als ich auf Wohnungssuche war. Da hat irgendein Vormieter bei einer Besichtigung in der Nähe vom damals noch etwas beliebteren Kollwitzplatz gelästert, was die hier gerade überall machen und als top saniert mit überzogenen Mieten loswerden wollen, ist doch in Wahrheit nur mal eben Löcher zugeschmiert und übergestrichen, streichsaniert! Ich hab das schon auch gemerkt. So dahingeschlunzt. Da wollte ich auch unbedingt nicht hin. Ich bin ja nicht blöd. Also die Sportlerhäuschen sind wohl auch irgendwann mal weiß übergepinselt worden, macht ja schon auch was her, so von außen. Zu Olympiazeiten waren sie nämlich hellgelb. Ich merke, ich bin ein bißchen zu müde, um etwas Gescheites zu schreiben, weil ich so abschweife. Also mir gefallen die Sportlerunterkünfte, deswegen hab ich auch so furchtbar viele Fotos von allen Seiten gemacht, die bestimmt schnell langweilig werden, wenn man nicht selber da war. Aber der Himmel war so schön blau. Und Ingmar Bergman. Und Piroschka. Und überhaupt.

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Elstal VI Sportlerunterkünfte

21. November 2010

10-10-03 Bastion (17)
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Bastion. Komischer Name für eine Freiluftbar, wenn man sich die Bedeutung zu Gemüte führt. Aber das war schon ein gelungenes Bauwerk, mit dem runden Reetdach. Auf diesem Foto kann man es sehen, wie sie damals ausgesehen hat. Es gab nur alkoholfreie Getränke. Alkohol war im ganzen olympischen Dorf nur im Speisesaal der Franzosen und noch einer Nation (Italien schätzungsweise) erlaubt, die durften Wein zum Essen trinken, weil er als unverzichtbarer Bestandteil ihrer nationalen Alltags-Kultur galt. Komisch eigentlich, dass unsere Germanen dann keinen Gerstensaft oder wenigstens Met trinken durften. Nicht konsequent! Aber diese hochwichtige Schulbuchinformation gehört eigentlich mehr zum Speisehaus der Nationen, nicht zur Bastion. Ich darf mein Pulver nicht verschießen! Von der Bastion ist nur noch das runde Fundament ist übrig, sie wurde im Krieg zerstört. Es wird angeblich geprüft, ob man im Keller darunter Toiletten einbauen könnte, dann soll sie wieder aufgebaut werden, die alte Saft- und Milchbar. Weiß gar nicht, was es da zu prüfen gibt. Als könnte man heutzutage irgendwo keine Toiletten einbauen. Oder wieder so ein Denkmalschutzdings. Na ja. Die Sonne stand schon ein bißchen tiefer, ich hatte das Gefühl für die Zeit verloren und ganz viel noch nicht gesehen. Ich wollte doch noch zu den Unterkünften der Athleten. Und zum Speisehaus der Nationen. Und so weiter. Weil ich keine Armbanduhr und kein Mobiltelephon besitze, muss ich raten oder die Leute fragen, wie spät es ist. Aber ich bin auf einen neuen Trick gekommen. Ich mache ein Foto und schaue in die Metadaten, wann es aufgenommen worden ist. Das klappt ganz gut. Nur mit der Zeitumstellung kann man schon mal ein bißchen durcheinanderkommen. Aber da war ja noch Sommerzeit. Am 3. Oktober Anno 2010. Im Grunde halte ich mich nur so lange mit diesem kleinteiligen Bericht auf, weil ich mir des erzieherischen Auftrages bewusst bin. Ich möchte hiermit ein nachahmenswertes Beispiel geben, in welcher Weise man den Tag der deutschen Einheit angemessen und pietätvoll begehen kann. Indem man so wie ich, überragendes Geschichtsbewusstsein zeigt, ein historisches Thema mit sowohl Ost-West- als auch Gegenwartsbezug wählt und im Anschluss daheim sechs bis acht Wochen lang eine moderne, sachbezogene Dia-Schau mit entsprechendem Lehrstoff für Groß und Klein erarbeitet. Ich denke, ich bin da auf einem sehr guten Weg und kann als Vorbild gelten.

Elstal V Bastion

21. November 2010


Ich konnte nur eine Spur im Internet finden, die erwähnt, dass das russische Café auf dem Areal des olympischen Dorfes vor zwei Jahren abgerissen wurde. Das Kasino für die russischen Offiziere wurde abgetragen, um die alten Sichtachsen freizulegen, heißt es. Abtragen klingt weniger vernichtend. Schwer, anhand der einzigen Fotografie auf der Schautafel zu sagen, ob es besonders sehenswert gewesen wäre. Jetzt ist es ein schöner Platz auf einer Anhöhe. Das Fundament ist noch da. Ein bißchen ist es dort wie bei diesen antiken Ausgrabungsstätten in Griechenland oder auf Sizilien oder Zypern, wo man den Wind hören kann. Eigentlich fehlen nur ein paar Säulentrümmer, so ein paar alte große Brocken von einem Apollotempel. Und ein Amphitheater. Schade, dass es kein Amphitheater im olympischen Dorf gibt. Ich finde, man sollte eins bauen, dort unter den schönen großen Kiefern. Und Kaffee sollte es geben. Russischen Kaffee. Aus Respekt und Nostalgie.
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Elstal IV Russisches Café

19. November 2010




Ich hatte zu wenig gelesen, bevor ich loszog, um sofort zu wissen, wofür diese bizarr verrottende Plattensiedlung auf dem Gelände des Olympischen Dorfes gebaut wurde. Ich ließ mich treiben und sah plötzlich verlassene Mietskasernen ohne Fensterscheiben. Man konnte bunte Kacheln erkennen und in frohen Farben gestrichene, verbleichende Wände, bröckelnde Farbschichten. Durchblicke zu den weiter entfernten Bäumen. Lichtreflexe, so kraftvoll, dass ich einen Moment bedauerte, alleine da zu sein. Ich hätte gerne jemanden an die Wand gestellt und abgeschossen. Man wäre einfach durch die Fenster eingestiegen und hätte das letzte Sommerlicht auf einem Gesicht eingefangen, einer maigrünen oder blauen Wand. Tiefes Blau mit Weiß wie auf Postkarten aus Santorin. Griechenland spielen oder Portugal. Und Zitronengelb, verwaschen vom Regen. Himmel arizonablau. Ich lese später, dass es Unterkünfte für die Offiziere der russischen Armee und deren Angehörige waren. Man hat gar nicht so viel Gelegenheit, Verfall an unspektakulären Bauten zu studieren, weil sie meistens abgerissen werden, bevor sich diese wunderlichen Dinge einstellen. Wenn ich es recht erinnere, zogen die sowjetischen Truppen 1993 ab. Siebzehn Jahre. In dieser Stunde war das Licht am schönsten.
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Elstal III Russische Armeeunterkünfte

19. November 2010




Habe ich gesagt, es gibt kein Pathos dort, nur Patina? Natürlich gab es Pathos dort. Denn ich war ja da. Wenn der Wille zum Pathos triumphiert kleine Anspielung, wird selbst ein Schuhkarton zur Kathedrale. Ich musste vorhin beim Durchgucken dieser Strecke doch denken, was soll der Leser denken, von dieser egomanischen Aneinanderreihung von Bildern meines Kopfes, meines Zustandes, meiner Sonnenbrille. Ich studiere das mich selbst übrigens sehr neugierig. Als wäre ich eine außenstehende Person. Ich bin jedesmal gespannt, auf diese für mich immer noch nicht mysterienlose, sich dauernd verändernde Person, die ich selbst bin. So ähnlich, wie man früher auf das Abholen des fertig entwickelten Analog-Filmes gewartet hat, warte ich auf den neuesten Eindruck meines Zustandes. Vielleicht erfahre ich dadurch etwas über mich, was mir noch nicht klar war. Oder ich erkenne, an welchem Punkt dieses Prozesses ich bin. Welche Spuren Erkenntnis hinterlassen haben könnte. Das ist ganz spannend. Ich finde so eine gewisse Delon-mäßige Härte, Entschlossenheit. Die sofort gebrochen wird, wenn ich die Sonnenbrille abnehme. Dann sehe ich, wie weich ich eigentlich bin. Und dass man es an den Augen sieht. Manchmal spüre ich Überraschung in den Gesichtern, wenn ich die Brille abnehme. Den Unterschied kann man studieren, wenn ich die S-Bahn betrete oder aus der Kälte in einen geschlossenen Raum komme. Dann nehme ich die Brille ab, die meine Augen vor dem Wind schützt. Und dann spüre ich überraschtes Lächeln. Bilde ich mir ein. Weil sich die eiscoole Lady im Befehlshabermantel in einen mutmaßlich beseelten Menschen verwandelt. Aber ich wollte ja was über das Hindenburghaus schreiben, diese alte pathetische Hütte. Ach was, man kann es ja überall nachlesen. Es war der zentrale Gemeinschaftstreffpunkt für die Athleten. Es gab Film- und Theateraufführungen, Konzerte und sogar die ersten Direktübertragungen des damals noch experimentellen Fernsehens, die „die ‚Abteilung ‚Freude‘ des Olympischen Dorfes unter der Leitung der NS-Kulturgemeinde organisierte.“ Später kamen die Russen und kritzelten irgendwas an die Wände, innen, wo ich nicht war. Aber ich übertrat tollkühn die Absperrung und begab mich in den verfallenden Bereich der Rückseite des Gebäudes. Eine Ruine, ein Bretterverhau, dies und das. Märchenlicht, ganz verwunschen. War schön da.

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Elstal II Hindenburghaus

18. November 2010


Wie war das noch, warum wollte ich da eigentlich hin? Mal überlegen. Ich habe ungefähr 1972 das letzte Mal Olympia geguckt. Ich bin in keinem Sportverein und auch keine Neonazisse. Obwohl ich mir Kraft meiner Wassersuppe erlaube, Lenis lichtbildnerisches Werk sehr zu schätzen. Das eine hat übrigens mit dem anderen nichts zu tun. Ich mag Pathos und Patina. Darauf war ich neugierig. Pathos war kaum zu finden, im olympischen Dorf von 1936 im brandenburgischen Elstal, aber Patina und dieses geheimnisvolle Gefühl vom Stillstehen der Zeit. Man findet das an Orten, an denen die Menschenhand lange nicht mehr oder kaum eingegriffen hat. In Naturreservaten, Naturschutzgebieten. Dann entfaltet sich ungehemmt die elektrische Aura der kleinsten Erdbewohner. Der Tanz der zurückgekehrten Mikroben. Die einst vom Menschen zurechtgestutzte, geformte Materie verbindet sich wieder mit den wilden Organismen und bekommt jenen atmenden, unerschrockenen Rhythmus zurück, den sie im Urzustand hatte. Ich liebe das. Die harten Kanten werden wieder weich. Die glatten Flächen porös und bewohnbar für die kleinsten Wesen. Wände, die zu leben scheinen, die vielen Abstufungen von Ocker an einer zuletzt irgendwann in der Mitte des letzten Jahrhunderts verputzten Fassade. Wenn alles instand gesetzt wäre, dort in Elstal, wäre es nur halb so schön. Aber ich will mir noch ein bißchen Text aufheben für die anderen neun Bildstrecken, die mir dort widerfahren sind. Nun fühlt es sich an, als sei ich nicht fünf Stunden, sondern fünf Wochen dort gewesen, in diesem verschlafenen kleinen Dorf in Brandenburg, das ich eigentlich ja immer noch nicht kenne.

Ich kam am Bahnhof an, es war ein Sonntag und ich nahm zur Kenntnis, dass der einzige Bus sonntags nie fährt. Auf einen kleinen Zettel kritzelte ich grob den Weg, noch zuhause. Dann war es recht einfach, immer diese lange Autostraße entlang, vorbei an einer struppigen Talsenke den Weg zu finden. Es gab ein, zwei Schilder. Windig war es. Und sonnig. Vor dem Eingang des olympischen Dorfes, gegenüber einer Wohnsiedlung war ein Platz mit der Bushaltestelle und ein paar Bänken und einer Till Eulenspiegel-Figur. Was mich freute, weil Till ein wilder Vogel war, ein kleiner Anarchist. Der Spiegel in seiner Hand hatte sogar eine richtige Spiegelfläche. Ein bißchen märchenhaft. Wenn ich es recht erinnere, zahlte ich einen Euro Eintritt. Oder waren es zwei? Es war jedenfalls so wenig, dass man schon deshalb das Gefühl haben konnte, ganz weit weg zu sein. Wie man manchmal über sehr niedrige Preise in anderen Ländern gerührt ist, weil man von zuhause anderes gewohnt ist. Den Eintritt entrichtete man an irgendeiner Bretterbude in der Nähe des Eingangs. Ich fragte nach einem Lageplan, irgendeinem Faltblättchen vielleicht? Das war gerade alles vergriffen. Vielleicht noch fünf andere Leute, eine Familie, war auch im Begriff ins olympische Dorf zu wandern. Sonst weit und breit kein Mensch. Großartig. Das erste was auffällt, sind die durch dicke Taue abgesperrten Wiesenflächen mit den Schildern „historische Fläche, bitte nich…“. Man schaut auf die Wiese und denkt so „aha, historisch!“. Aber weiter ist da nichts.

is jut, is jut Mann.
Und dann plötzlich diese kaum sichtbare Ruine, mit Planen verkleidet und einem rundumlaufenden, mannshohen riesigen Banner mit historischen Schwarzweiß-Fotografien. Es ist die verfallene Schwimmhalle, die wiederhergestellt wird. Die alten Fotos haben mich sehr fasziniert. Wieviel Leben, Lebensfreude in diesen wenigen Wochen dort einzog. Die Athleten schienen ziemlich viel Spaß zu haben. Ich machte ein paar Fotos mit mir und vor allem Jesse Owens und ging weiter, der Sonne entlang. Hier war also der Waldsee, wie ich auf dem Schild lese. Mit einer finnischen Sauna. Eine weite, offene Talsenke in der Landschaft, die auch in Schweden sein könnte. Wälder ringsum. Der See ist wieder verlandet, er wurde nur zum Komfort der Athleten mit Wasser gefüllt. Ich stelle mir vor, wie sich die Sportler aus aller Herren Länder dort vergnügten und den Eindruck haben mussten, dass sich das Gastgeberland wirklich Mühe gegeben hatte, den Gästen möglichst viele Annehmlichkeiten zu bieten. Das hat mich schon beeindruckt. Und hinter der Biege des nächsten Birkenwäldchens konnte ich ein großes Gebäude erahnen.
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Elstal I Arrival

17. November 2010

46 03.10.2010 Elstal I Arrival (erl.)
122 03.10.2010 Elstal II Hindenburghaus (erl.)
100 03.10.2010 Elstal III Russische Armeeunterkünfte (erl.)
22 03.10.2010 Elstal IV Russisches Café (erl.)
22 03.10.2010 Elstal V Bastion (erl.)
112 03.10.2010 Elstal VI Sportlerunterkünfte (erl.)
226 03.10.2010 Elstal VII Speisehaus der Nationen (erl.)
22 03.10.2010 Elstal VIII Pyrrhocoris apterus (erl.)
88 03.10.2010 Elstal IX Sporthalle (erl.)
28 03.10.2010 Elstal X Departure (erl.)
4 07.10.2010 Brel (erl.)
22 08.10.2010 Werner Herzog (erl.)
46 08.10.2010 Olaf Heine (erl.)
28 09.10.2010 Berlin (erl.)
4 10.10.2010 Gaga vor Eva (erl.)
58 10.10.2010 Eva-Maria Hagen (erl.)
10 13.10.2010 Atelier (erl.)
10 16.10.2010 Gipsdreieck (erl.)
16 17.10.2010 Kuri Kabocha (erl.)
52 28.10.2010 Hacke Picciotto (erl.)
10 15.11.2010 Bastard (erl.)
=======================================
1.042 [Summe] incl. 19,96 % Vergnügungssteuer*
*) 208 neuwertige Gaga-Nielsen-Abbildungen

12. November 2010


Soll ich was Neues schreiben? Schnell noch einen Eintrag machen? Na gut. aber nur ganz kurz. Ich bin fertig und dachte über den Begriff fertig nach.
Wenn ich jetzt zum Beispiel nur bloggen würde: „Ich bin fertig.“ Da gäbe es allerhand Interpretationsspielraum. Was meint sie denn nun? Finished – ready – exhausted? Von allem ein bißchen. Aber am wenigsten das Letztere. Finished meine ich. Wollen wir mal nicht so hoch hängen. Ich hatte eben viel zu tun und bin gerade damit fertig geworden. Mit einer Etappe meines sagenhaften Lebenswerkes. Bald wieder Mitternacht. Überlege, ob ich morgen Vormittag ins Delphi zu Thomes Teampremiere seines neuen Films gehe. Ich lese in den letzten Wochen wieder ab und zu in seinem Blog, das mir eigentlich mehr zusagt, als sein Filmschaffen. Wahrscheinlich der einzige Filmemacher, der von der Idee bis zum Drehbuch, über die Dreharbeiten, bis zum Schnitt und die Premiere das Entstehen eines jeden seiner Filme akribisch online dokumentiert. Parallel schreibt er ein halb privates Tagebuch im Netz, das er jüngst mit der Überschrift Blog ergänzt hat. Für einen Siebzigjährigen hält er sich höchst respektabel auf dem Laufenden. Ich habe sein Online-Schaffen vor ein paar Jahren entdeckt und neugierig verfolgt, dann lange gar nicht gelesen. Jetzt gucke ich wieder ab und zu. Hanns Zischler hat auch wieder mitgespielt. Keine Ahnung, ob der da ist. Aber um ehrlich zu sein, habe ich Probleme mit den mich mit einer gewissen Regelmäßigkeit befremdenden Dialogen in seinen (also Thomes) Filmen. Müsste ich außerdem ziemlich früh aufstehen. Ist ja in Charlottenburg. Um 11 vormittags im Delphi. Falls jemand Lust hat. Einfach hingehen. Da passen 700 Leute rein. Danach gibt’s Prosecco. Ich trinke ja nicht so gerne, wenn es noch hell ist. Vielleicht geht Jan ja hin, hab ihm vorhin noch eine Mail geschickt. Ach was soll ich da. Ist doch Quatsch.

10. November 2010


Eine meiner anstrengendsten Eigenschaften ist, dass ich bei Menschen, die mir nahe stehen, und denen ich Bewusstsein unterstelle, jedes Wort und jede Handlung auf die Goldwaage lege. Unerbittlich. Nur bei Tipp- und Kommafehlern und von Geburts wegen mangelnder Begabung bin ich großzügig. Allerdings ist die Bedingung, mir überhaupt über einen längeren Zeitraum nahe stehen zu dürfen, mein wiederholter Eindruck von selten hochgradiger Eloquenz, gepaart mit überdurchschnittlichen Wahrnehmungsfähigkeiten. Wer die Aufnahmeprüfung geschafft hat, ist quasi fortan im Prüfungsstress. Es sei denn, und das ist der Idealfall, jemand wäre, in mir vergleichbar virtuoser Weise, gestreng mit sich selbst, dann ist alles ganz entspannt. Ja geradezu ein Osterspaziergang – um nicht zu sagen ein Vergnügen. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Das ist eigentlich eher der Haken. Ich bin schnell verärgert, wenn jemand unter seinen Möglichkeiten, unter seinem eigenen, von Geburts, Talent oder Intelligenz wegen möglichen, Niveau agiert. Schlampig formulierte Inhalte, unangemessene Adjektive, leichtfertige Handlungen. Halbe Sachen. Laue Aussagen. Indifferente, beliebige Phrasen. Viel Gerede, keine Handlung. Handlungsinkonsequenz. Das macht mich fuchsteufelswild. Ich verstehe es einfach nicht und es langweilt mich. Wenn man gelegentlich schwerst betrunken oder bekifft ist, ist man natürlich vorübergehend entschuldigt. Oder wenn man krank ist. Aber wenn man gesund und nüchtern ist und alle Sinne beisammen hat, niemals. Das ist Schlamperei. Insofern ist für mich ein dauerhafter Kontakt zu Alkoholikern und anderen regelmäßigen Drogen-Usern sowie sonstigen zu Abstürzen neigenden Psychotikern nicht von Interesse (seltene, genialisch hochbegabte Ausnahmen – die mir bislang nicht bekannt sind – ausgenommen). Ich bin wahrscheinlich insgesamt intolerant, wenn es um gestreute Aufmerksamkeit geht. Zerstreute, zerfaserte Aufmerksamkeit. Das hat gleichermaßen mit Respekt vor dem Gegenüber oder für eine Aufgabe und Qualitätsanspruch zu tun. Konzentration und Fokussierung der Energie auf eine Sache, ermöglicht ein vorzügliches Ergebnis, anstatt eines mittelmäßigen Resultats. Egal, worum es geht. Zerstreuung bedeutet, hier ein bißchen Kraft und Einsatz und dort ein bißchen. Überall so ein bißchen. Aber nichts so hundertprozentig. Das widerstrebt völlig meinem eigenen Charakter. Befremdet mich zutiefst. Können andere gerne praktizieren, aber bitte ohne mich jemals einzubeziehen. Hingabe ist mit Unkonzentriertheit unvereinbar. Ich meine nicht intellektuelle Konzentration, sondern kanalisierten, konzentrierten Fluss der jeweils dominant geforderten Energie. Schlaf, Liebe, Wut, Andacht, Albernsein, Mut. Und dann wird alles gut.

10. November 2010


Eine meiner anstrengendsten Eigenschaften ist, dass ich bei Menschen, die mir nahe stehen, und denen ich Bewusstsein unterstelle, jedes Wort und jede Handlung auf die Goldwaage lege. Unerbittlich. Nur bei Tipp- und Kommafehlern und von Geburts wegen mangelnder Begabung bin ich großzügig. Allerdings ist die Bedingung, mir überhaupt über einen längeren Zeitraum nahe stehen zu dürfen, mein wiederholter Eindruck von selten hochgradiger Eloquenz, gepaart mit überdurchschnittlichen Wahrnehmungsfähigkeiten. Wer die Aufnahmeprüfung geschafft hat, ist quasi fortan im Prüfungsstress. Es sei denn, und das ist der Idealfall, jemand wäre, in mir vergleichbar virtuoser Weise, gestreng mit sich selbst, dann ist alles ganz entspannt. Ja geradezu ein Osterspaziergang – um nicht zu sagen ein Vergnügen. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Das ist eigentlich eher der Haken. Ich bin schnell verärgert, wenn jemand unter seinen Möglichkeiten, unter seinem eigenen, von Geburts, Talent oder Intelligenz wegen möglichen, Niveau agiert. Schlampig formulierte Inhalte, unangemessene Adjektive, leichtfertige Handlungen. Halbe Sachen. Laue Aussagen. Indifferente, beliebige Phrasen. Viel Gerede, keine Handlung. Handlungsinkonsequenz. Das macht mich fuchsteufelswild. Ich verstehe es einfach nicht und es langweilt mich. Wenn man gelegentlich schwerst betrunken oder bekifft ist, ist man natürlich vorübergehend entschuldigt. Oder wenn man krank ist. Aber wenn man gesund und nüchtern ist und alle Sinne beisammen hat, niemals. Das ist Schlamperei. Insofern ist für mich ein dauerhafter Kontakt zu Alkoholikern und anderen regelmäßigen Drogen-Usern sowie sonstigen zu Abstürzen neigenden Psychotikern nicht von Interesse (seltene, genialisch hochbegabte Ausnahmen – die mir bislang nicht bekannt sind – ausgenommen). Ich bin wahrscheinlich insgesamt intolerant, wenn es um gestreute Aufmerksamkeit geht. Zerstreute, zerfaserte Aufmerksamkeit. Das hat gleichermaßen mit Respekt vor dem Gegenüber oder für eine Aufgabe und Qualitätsanspruch zu tun. Konzentration und Fokussierung der Energie auf eine Sache, ermöglicht ein vorzügliches Ergebnis, anstatt eines mittelmäßigen Resultats. Egal, worum es geht. Zerstreuung bedeutet, hier ein bißchen Kraft und Einsatz und dort ein bißchen. Überall so ein bißchen. Aber nichts so hundertprozentig. Das widerstrebt völlig meinem eigenen Charakter. Befremdet mich zutiefst. Können andere gerne praktizieren, aber bitte ohne mich jemals einzubeziehen. Hingabe ist mit Unkonzentriertheit unvereinbar. Ich meine nicht intellektuelle Konzentration, sondern kanalisierten, konzentrierten Fluss der jeweils dominant geforderten Energie. Schlaf, Liebe, Wut, Andacht, Albernsein, Mut. Und dann wird alles gut.

10. November 2010

Es ist spät. Wenn im eigenen Blog schon die Buchstaben verschwimmen und man als Überschrift des letzten eigenhändig verfassten Kommentars Königsberichterstattung (statt Kriegs-) liest, und das auch nicht weiter komisch findet. Dann ist es spät. Bis morgen.

10. November 2010

Es ist spät. Wenn im eigenen Blog schon die Buchstaben verschwimmen und man als Überschrift des letzten eigenhändig verfassten Kommentars Königsberichterstattung (statt Kriegs-) liest, und das auch nicht weiter komisch findet. Dann ist es spät. Bis morgen.

09. November 2010

Post aus Konstantinopel. Eine alte Postkarte von 1925. Wie selten man noch Postkarten erhält. Und Briefe. Ich habe mich daran gewöhnt, kaum noch etwas zu schreiben, was man in seiner Vertraulichkeit als Brief bezeichnen könnte. Nicht nur nicht auf Papier. Wieviele Briefe ich früher schrieb. Später Mails. Das ist alles vorbei. Es wurde irgendwann, vor zehn Jahren zu einer besonderen, sehr persönlichen Form des Austausches für mich, mit einem auserwählten Menschen. In ähnlicher Intensität und noch größerer Dichte erlebte ich es später noch einmal. Für mich bedeutete das jeweils einen großen Vertrauensbeweis. Mich in Worten anzuvertrauen. Unbegrenzt und unzensiert. Und das Gefühl zu haben, dass das was ich mitzuteilen habe, egal wie banal, egal wie abgründig, egal wie sentimental, willkommen sei, war ein sehr schönes. Ein sehr schönes Gefühl. Ich habe mich daran gewöhnt, dass sich alles verändert hat. Und es gibt keine einfache Geste, um den verlorenen Faden aufzuheben. Der Faden ist zerrissen. Schmerzhaft. Es fehlt ein Stück dazwischen. Und ich kann das Ende meines Fadens nicht mehr wiederfinden. Weil ich aufgehört habe, auf den Boden zu starren, an dem ich das Ende verlor.

Mein Postfach. Es macht mir Angst. Ich habe Angst vor dem Posteingang. Deshalb habe ich mich seit gestern, irgendwann um zweiundzwanzig Uhr nicht mehr eingeloggt. Weil man sich unhöflich und gemein vorkommt, wenn man nicht antwortet, sollte man Post haben. Deswegen. Ich fürchte mich davor, dass mich ein vertrauter Ton erinnert. Ich fürchte mich vor der Wärme einer vertrauten Redewendung. Vor dem Pingpong. Vor dem, an das ich mich gerade gewöhnt habe, dass es nicht mehr existiert. Und was ich nun versuche, aus der Ferne zu begreifen. Die Nächte, die ich darüber schlafe, helfen mir. Jeden Tag ein paar Millimeter. Weiter, ferner. Weniger schmerzhaft. Ich schreibe das aus Höflichkeit. Weil mir vielleicht jemand geschrieben hat. Und ich nicht mehr antwortete. Alle meine Antworten sind hier. Hier kann ich furchtloser schreiben. Ich muss keine Angst haben, dass meine Sentimentalität geohrfeigt wird. Bei filigranen Offenbarungen kann ich einfach die Kommentarfunktion abstellen. Es hilft mir, mich über dieses Blog zu artikulieren. Ich will es gar nicht persönlicher. Keine mitfühlenden Mails, die ich aufmerksam beantworten müsste. Wahrscheinlich kann ich gerade mit keiner Form von gut gemeintem, in Worten artikuliertem Mitgefühl umgehen. Es ist auch kein schönes Gefühl, einen Bogen um das eigene Postfach zu machen. Weil keine Karte aus Konstantinopel drin sein wird. Etwas Banaleres vielleicht. Davor fürchte ich mich sehr. Und vor dem Gegenteil ebenso. Für mich zählen nur nur noch Weltwunder. Neue Horizonte. Was ich erlebte, soll sich nicht wiederholen. Das Schöne habe ich bewahrt. Ganz tief im Herzen. Und alles andere will ich vergessen. Ich will die Novembersonne spüren. Ich hab den November immer geliebt. Mein dunkler Frühlingsmonat. Zeig mir deine Sonne. Dieselbe, die immer wiederkehrt. Ewig neu. Ewig neu und jung.

Heute morgen in der S-Bahn dachte ich plötzlich unvermittelt an ein fürchterliches Interview, das Lou Reed dem Magazin Galore gab. Das unsympathischste, bizarrste Gespräch, das wohl je von einem Journalisten mit einem respektablen Rockstar geführt wurde. Lou Reed, den ich als Musiker, Singer Songwriter seit rund dreißig Jahren sehr schätze, gab seiner Antipathie dem Fragesteller gegenüber freien Lauf. Das ist zum Teil auf kuriose Art witzig aber auch von erschreckender Arroganz. Lachen musste ich, als ich las, wie er eindringlich bohrend nachhakte, auf welcher Anlage von welchem Hersteller der Frager Reeds neueste Platte gehört hatte, um zu beurteilen, ob er, der das Interview führende Journalist, die Qualität seines Meisterwerkes überhaupt adäquat einschätzen könnte. Eine anspruchsvolle Haltung, warum aber auch nicht. Ich klappte das oberlehrerhafte, lustlose Interview dann, vor sechs Wochen irgendwann, leicht befremdet zu. Wenig später las ich irgendwo im Internet, dass Lou Reed seine langjährige Gefährtin Laurie Anderson nach ewigen gemeinsamen Zeiten vor zwei Jahren geheiratet hat. Ich sah Fotos, die beide zeigten, als Paar. Das rührte mich wieder und ich vergab Lou Reed das doofe Interview. Und aus irgendeinem Grund ging mir heute morgen durch meinen lädierten Kopf (weinen + Wein das lass sein), dass die beiden ja schon über Sechzig waren, als sie heirateten. Alte Leute. Rentenalter. Und dass sie gar nicht wie Rentner ausschauen, auf den schönen Bildern. Das hat mich irgendwie gerührt. Vielleicht hat das nichts mit dem zu tun, was da oben steht. Aber eigentlich hat alles miteinander zu tun.

09. November 2010


Stärke. Scheu. Und Angst vor innerer Rührung. Und Erinnerung. Erinnert werden. Wächst meine Kraft trotz oder wegen des Alleinseins? Oder unabhängig davon? Man übernimmt vielleicht mehr Verantwortung für die Stunden, die dann gut gewesen sein sollen. Wenn man sich an sie zurück erinnert. Dereinst. Obwohl… ich glaube, ich übernehme immer ein Gefühl der Verantwortung. Das habe ich immer versucht. Die Zeit, egal ob allein oder zu zweit, nicht unaufmerksam verstreichen zu lassen. Im Gegenteil. Gerade weil ich so sehr darauf bedacht war, den Augenblick auszukosten, und das meine ich wörtlich, ganz bildlich, verblieb ich freien Willens an Orten, Plätzen, Stunden, die mir ohne mein Gegenüber nichts bedeutet hätten. Rein gar nichts. Bis auf drei Ausnahmen vielleicht. Ein lange geliebter Ort, den ich auch oft alleine aufsuchte. Ein neuer, versteckter Ort, den ich kurz davor alleine kennenlernte. Ein alter geliebter Ort, der mir neu war, den ich liebte, wiedererkannte. Es gab ein Bild davon, das ich im Herzen bewahrte, bis ich dort sein würde. Und ich fand ihn. Für kurze Zeit.

08. November 2010


Und jetzt weiter. Nicht im Text. Bild. Den Bildern. Als ob ich einen Berg abtrage. Bergbau. Die Arbeit dürfte körperlicher sein. Mehr wie Bergbau. Immer wenn sich die Gelegenheit bietet, körperlich zu arbeiten, rufe ich „hier!“ und „ich ich ich!“. Das versteht kaum einer. Ich empfinde Befriedigung, wenn ich schwergewichtige Gegenstände bewege. Nicht, wenn es immer so wäre, aber so selten wie es sich ergibt, immer. Dieses beinah regungslose Verharren und auf einen Monitor starren, wenn auch dynamisch, entscheidend, agierend, beschneidend, formatierend. In den letzten vier Wochen zunehmend wie in einer selbst gewählten Klosterzelle. Begeisterung am Morgen, wachsende Eintönigkeit, wenn sich die Motive über längere Strecken wenig ändern, obgleich alle gut. Die schiere Fülle, die nicht mehr begeistert, sondern beinah erstickt. Die Alternative sind andere Bilderfluten. Und wofür. Dann irgendwann dazwischen wieder Aufnahmen, die mich wegbeamen. In einen Traum, den ich gar nicht erlebt habe. Dann bin ich wieder versöhnt und denke, da muss ich jetzt einfach durch. Durch all die Bilder. Denn wegwerfen will ich sie auch nicht. Viel zu schade. Viel zu sehr Teil meines Lebens, viel zu sehr geliebte Augenblicke. Viel zu sehr. Einfach Pausen machen. Weniger Disziplin. Ich arbeite so verdammt viel. Ich bin ja verrückt. Schon ganz Gaga. So kam ich übrigens zu dem Namen. Ach ja, ich wollte ihn ja endlich im Personalausweis eintragen lassen. Das geht jetzt wieder. Vorausgesetzt, man ist so verrückt wie ich und kann es beweisen.

08. November 2010


Ist mir noch nicht so aufgefallen, dass ich einen Schutzengel hätte. Aber wenn ich an die vergangenen drei Tage denke und heute. Dreimal in körperliche Gefahr geraten und wundersam unverletzt daraus hervorgegangen. Zuletzt heute morgen, Sprint die steinerne Treppe hoch, zur eben eingefahrenen S-Bahn am Hackeschen Markt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. An der Kante einer Stufe abgerutscht und rückwärts stürzend hingebrettert, Knochen auf die Stufen verteilt.
Kurioserweise zuerst an die Unversehrtheit meiner Sonnenbrille (besser Windschutzbrille, der Herbstwind lässt mich weinen) gedacht, die in eine Stufenecke flog, statt an das Heil meiner Knochen. Dann gedacht, wahrscheinlich merke ich jetzt noch nicht, wieviele Knochen ich mir gebrochen habe, weil man ja unter dem Schock der Verletzung sofort diesen schmerzstillenden Adrenalinschub bekommt. Ein Paar auf der Treppe neben mir, das meinen Sturz sah, stürzte tief erschrocken auf mich zu und streckte vier hilfreiche Arme aus. Dritter Gedanke: „komisch, dass es immer heißt, in Berlin schert sich keiner drum, wenn einem was passiert, die Leute würden einfach weitergehen. So ein Quatsch.“ Ich wagte eine zaghafte Bewegung und konnte kaum glauben, dass ich keinerlei Beeinträchtigung spürte. Noch nicht einmal das Gefühl einer Schürfwunde. Auf die besorgte Nachfrage antwortete ich „scheint alles in Ordnung zu sein – unglaublich aber wahr“.
Aus dem Augenwinkel nahm ich warmes verwundertes und beruhigtes Lächeln wahr und noch mehr Verwunderung darüber, dass ich meinen Sprint sofort wieder aufnahm. Kurz bevor die Tür schloss, stand ich in der wie immer überfüllten S-Bahn, an die Türscheibe gedrückt. Das Abteil war so gedrängt voll, dass es ausgeschlossen war, mich leicht zu bücken, um festzustellen, ob meine Kleidung beim Sturz Federn lassen musste. Als ich ausstieg, sah ich an mir herunter, konnte keinerlei Schaden feststellen und klopfte nur ein bißchen Staub vom Stoff an den Knien. Und dann legte ich eine ziemlich lange, bis jetzt währende Gedenkminute für meinen Schutzengel ein. Etwas Vergleichbares (ohne selbstverschuldetes Risiko durch Gesprinte und Bocksprünge allerdings) widerfuhr mir bereits am Freitag Abend, zweimal kurz hintereinander. Jetzt beim dritten Mal in so kurzer Zeit denke ich, da scheint mich jemand ganz schön gerne zu haben. Wenn ich nur wüsste, wie er aussieht, mein Schutzengel. Bestimmt ist er attraktiv. Und kein Mädchen. Nur so ein Gefühl. Danke.

08. November 2010


Ist mir noch nicht so aufgefallen, dass ich einen Schutzengel hätte. Aber wenn ich an die vergangenen drei Tage denke und heute. Dreimal in körperliche Gefahr geraten und wundersam unverletzt daraus hervorgegangen. Zuletzt heute morgen, Sprint die steinerne Treppe hoch, zur eben eingefahrenen S-Bahn am Hackeschen Markt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. An der Kante einer Stufe abgerutscht und rückwärts stürzend hingebrettert, Knochen auf die Stufen verteilt.
Kurioserweise zuerst an die Unversehrtheit meiner Sonnenbrille (besser Windschutzbrille, der Herbstwind lässt mich weinen) gedacht, die in eine Stufenecke flog, statt an das Heil meiner Knochen. Dann gedacht, wahrscheinlich merke ich jetzt noch nicht, wieviele Knochen ich mir gebrochen habe, weil man ja unter dem Schock der Verletzung sofort diesen schmerzstillenden Adrenalinschub bekommt. Ein Paar auf der Treppe neben mir, das meinen Sturz sah, stürzte tief erschrocken auf mich zu und streckte vier hilfreiche Arme aus. Dritter Gedanke: „komisch, dass es immer heißt, in Berlin schert sich keiner drum, wenn einem was passiert, die Leute würden einfach weitergehen. So ein Quatsch.“ Ich wagte eine zaghafte Bewegung und konnte kaum glauben, dass ich keinerlei Beeinträchtigung spürte. Noch nicht einmal das Gefühl einer Schürfwunde. Auf die besorgte Nachfrage antwortete ich „scheint alles in Ordnung zu sein – unglaublich aber wahr“.
Aus dem Augenwinkel nahm ich warmes verwundertes und beruhigtes Lächeln wahr und noch mehr Verwunderung darüber, dass ich meinen Sprint sofort wieder aufnahm. Kurz bevor die Tür schloss, stand ich in der wie immer überfüllten S-Bahn, an die Türscheibe gedrückt. Das Abteil war so gedrängt voll, dass es ausgeschlossen war, mich leicht zu bücken, um festzustellen, ob meine Kleidung beim Sturz Federn lassen musste. Als ich ausstieg, sah ich an mir herunter, konnte keinerlei Schaden feststellen und klopfte nur ein bißchen Staub vom Stoff an den Knien. Und dann legte ich eine ziemlich lange, bis jetzt währende Gedenkminute für meinen Schutzengel ein. Etwas Vergleichbares (ohne selbstverschuldetes Risiko durch Gesprinte und Bocksprünge allerdings) widerfuhr mir bereits am Freitag Abend, zweimal kurz hintereinander. Jetzt beim dritten Mal in so kurzer Zeit denke ich, da scheint mich jemand ganz schön gerne zu haben. Wenn ich nur wüsste, wie er aussieht, mein Schutzengel. Bestimmt ist er attraktiv. Und kein Mädchen. Nur so ein Gefühl. Danke.

07. November 2010

Jeden Tag ein neues Wort. Heute: Erwiderungsmoral. Sehr interessant. Ich finde die kulturellen Errungenschaften der Antike in verschiedener Hinsicht beachtenswert.
(…) Die griechisch-römische Antike betrachtete die Rache als einen Akt der Gegenseitigkeit (Erwiderungsmoral). Tue Gutes denen, die dir Gutes tun, schade denen, die dir schaden. (…)
http://de.wikipedia.org/wiki/Rache#Antike

03. November 2010


Vorbild Tierreich: Löwen schlafen viel und jagen effektiv. (…) Löwen zum Beispiel schlafen durchschnittlich 20 Stunden am Tag. Wenn der Hunger sie treibt, jagen sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 55 km/h durch die Savanne und schnappen sich ihre Beute. Das nennt man Effizienz!

(Krankenkassenzeitung)

Tiger bestimmt auch!

03. November 2010


Vorbild Tierreich: Löwen schlafen viel und jagen effektiv. (…) Löwen zum Beispiel schlafen durchschnittlich 20 Stunden am Tag. Wenn der Hunger sie treibt, jagen sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 55 km/h durch die Savanne und schnappen sich ihre Beute. Das nennt man Effizienz!

(Krankenkassenzeitung)

Tiger bestimmt auch!

02. November 2010

Denkzettel Morgen Mittag, 3. Nov. 12:30 Uhr, Alex Berlin

Ich bin war ja sehr gespannt, was sie daraus zusammengeschnitten haben. Man leidet doch ein bißchen mit, wenn die Technik hängt oder der Ton bei den vorgeführten Filmen asynchron ist, oder der Rechner abstürzt… was so alles passieren kann. Und das passierte einige Male, aber trotzdem war es sehr kurzweilig und inspirierend. Ich bin vermutlich auch ab und zu im Bild. An dem Abend wurde hauptsächlich gefilmt. Fotografiert habe nur ich (gibt irgendwann hier noch viele Bilder von den beiden).
EDIT: leider scheiterte die Übertragung der Sendung an teilweise ungeklärten Nutzungsrechten der eingespielten Doku-Sequenzen. Da sich der Vortrag maßgeblich darauf bezogen hat, ist damit die ganze Aufzeichnung in der gegenwärtigen Form nicht mehr verwertbar und müsste anders geschnitten werden. Schade. Da müssen die ALEX-Aufnahmeleiter-Novizen wohl noch ein bißchen nachsitzen.