23. April 2009

Atmen. Tief. Einfach atmen. Konzentration auf diese eine wesentliche Körperfunktion. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Tiefer. In den Bauch. Gegen den Abgrund. Das innere Fallen. Die Fallhöhe variiert. Mittlere Fallhöhe. Man könnte sich auch irgendwann entscheiden, liegen zu bleiben, am Boden. Dann wird man nie mehr fallen. Oder nur stehen, beinah regungslos, ungerührt, unberührt. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Und nie mehr fliegen. Fliegen. Ein sanfter Gleitflug wäre schön. Keine Concorde. Kein Sturzflug. Ein sanfter Segelflug. Wie sehr ich das zu schätzen wüsste. Ganz besonders. Sehr. Atmen.

26. dezember 2004

letzte nacht träumte ich eine kleine geschichte, die als hauptprotagonisten den internetberühmten schreiber don dahlmann, die münchner hexenkünstlerin luisa francia sowie meine bescheidene wenigkeit vereinte. in einer eher unwichtigen nebenrolle war auch noch die tochter von frau francia kurz zu sehen.
der traum:
aus mir unbekannten gründen war ich zu besuch bei frau luisa francia (die ich nicht persönlich kenne!). sie wohnte (wohl nicht nur in meinem traum) in einer reichlich verschachtelten altbauwohnung in münchen mit allerlei zeugs aus aller welt. die recht gemütliche küche und das wohnzimmer waren mehr oder weniger ein raum.
in jenem saßen frau francia und ich abwechselnd an einem großen runden holztisch und dann wieder auf einem altertümlichen sofa mit blutrotem brokatbezug und plauderten, während sie immer wieder aufstand, um hinüber zum herd zu gehen und einen eintopf (möglicherweise gulasch) umzurühren.
plötzlich kam das gespräch auf verschiedene leute, die im internet schreiben. als der name don dahlmann fiel, guckte sie weitaus interessierter als vorher. ich erwähnte, dass ich mit jenem herrn dahlmann angelegentlich ein paar biere getrunken habe, was sie dazu veranlasste, aufgeregt „ach tatsächlich?!“ auszurufen.
da ich nicht weiter ins detail ging, begann sie nun überlegungen anzustellen, wie herr dahlmann wohl aussehen würde und fragte mich, ob ich es für möglich hielte, dass man über die bildersuchfunktion in google ein foto von ihm finden könnte. ich sagte „natürlich, kein problem. allerdings kommt man da nur auf ein älteres, nicht so supertolles foto, wo er an einem tisch sitzt und liest“. sie könnte ihm aber auch einfach eine mail schicken, er wäre neuen bekanntschaften immer aufgeschlossen. da sei doch gar nichts dabei, versuchte ich ihr mut zu machen.
frau francia schien richtig hibbelig zu sein und hatte wohl das gefühl, sich für ihr unverkennbares interesse an don dahlmann entschuldigen zu müssen. sie erklärte, sie hätte schon einiges von ihm gelesen und er könne recht gut schreiben, sie fände es allerdings zwiespältig und aber äh durchaus interessant. besonders diesen text über ’haut und knochen’. aha. ich ahnte welchen text sie meinte und amüsierte mich über ihre anstrengungen, ihr erotisches interesse an herrn dahlmann vertuschen zu wollen.
ich hatte das deutliche gefühl, dass sie denkbar größtes interesse hätte, ihn persönlich kennenzulernen. das wunderte mich insofern, als sie in ihrem tagebuch nicht den eindruck vermittelt, sich auch nur im geringsten für männerbekanntschaften zu interessieren. frau francia ist ungefähr 55 und militante feministin.
frau francia stand nun auf, um aus irgendeinem anderen zimmer etwas zu holen. während ihrer abwesenheit erschien plötzlich aus dem nichts eine art projektionsfläche, die herrn dahlmann per video- konferenz zuschaltete. so ähnlich wie in den tagesthemen, nur größer und moderner. der ca. 1,50 x 1,20 große monitor schwebte ungefähr zwei meter über dem boden in der luft, gleich links vom herd mit dem brodelnden eintopf. er trug eine art beigefarbenen trenchcoat, der bildausschnitt zeigte allerdings nur die obere körperhälfte.
am meisten überraschte mich jedoch seine neue frisur. das unlängst noch kurzgeschnittene haar von don dahlmann hatte plötzlich eine gewisse länge und ähnelte bis aufs haar der neuen raddatz-frisur von harald schmidt. da ich haarlänge durchaus zu schätzen weiß, war ich angetan von seiner neuen haarpracht und äußerte mich anerkennend. sinngemäß sagte ich ungefähr, die längeren haare würden sich auch auf den neuen fotos gut machen.
don dahlmann begann zu erörtern, wie er sich die neuen fotos von sich genau vorstellt. er benutzte den ausdruck ’bon vivant’. er möchte am liebsten so richtung ’bon vivant’-mäßig rüberkommen. darauf würde er wert legen. sonst hätte ich freie hand, wobei er sich mit etwas eitler geste, genießerisch beidseitig das graumelierte haar hinter die ohren strich. ich sagte daraufhin richtung monitor, dass er dafür ja nun schon einmal genau die richtige frisur hätte. allerdings von der kleidung her würde ich ihn mir da eher in einem klassischen weißen hemd, nicht zu zugeknöpft und einem schwarzen sakko vorstellen, das allerdings unbedingt tailliert sein müßte.
herr dahlmann guckte etwas unwirsch und meinte, ja, das mit dem weißen hemd und auch dem schwarzen sakko könnte er sich schon durchaus vorstellen, nur warum denn um himmels willen tailliert? er würde das jackett ohnehin offen tragen, da wäre es doch egal, ob es tailliert ist oder nicht. ich pflichtete ihm bei, dass er das sakko selbstverständlich offen tragen soll, aber nichtsdestotrotz sei es für die silhouette ungemein wichtig, dass das ding tailliert geschnitten sei. dann ging ich noch kurz darauf ein, wieso es außerdem wichtig wäre, dass das weiße hemd möglichst weit offen steht, also nicht zu weit aber eben so, dass es noch in der art eines lebemanns lässig wirkt.
damit war das thema dann erledigt, die monitorschaltung bestand allerdings immer noch. mit möglichst unverfänglichem ausdruck in der stimme fragte ich ihn nun gelegenheitshalber, ob er eigentlich luisa francia kennen würde, und falls ja, wie er sie so findet. don dahlmann ließ ein wegwerfendes ’phh’ vernehmen und sagte in etwa ‚die ist ja ganz furchtbar – sogar gefährlich! die züchtet und quält doch kröten oder so etwas ähnliches. dafür ist die doch sogar vorbestraft – hab ich jedenfalls in der bildzeitung gelesen’. ich beschloss, nicht weiter auf das thema einzugehen und die videokonferenz schien damit erst einmal beendet zu sein, sogleich verschwand der monitor im nichts.
im selben moment kam frau francia zurück in die wohnküche und setzte sich wieder zu mir auf das sofa, das plötzlich seitenverkehrt an der anderen wand stand. ihre tochter war diesmal auch dabei und fing an in allen möglichen schubladen herumzukramen. gegenüber vom sofa hatte man jetzt die tür zum flur und die haupteingangstür im blick. wie zufällig und doch selbstverständlich kam nun don dahlmann wie die bezaubernde jeannie als flaschengeist durch die tür geschwebt, ganz ohne monitor-begrenzung, dreidimensional, leibhaftig. allerdings konnte nur ich ihn sehen. für frau francia und ihre tochter war er unsichtbar. was er allerdings selbst nicht wusste.
da er frau francia von fotos aus der bildzeitung erkannte, war seine überraschung umso größer, dass ich mit ihr offenbar persönlich bekannt und wohl sogar befreundet war. man sah, dass er sich peinlich berührt an seine kürzlich gemachten abfälligen äußerungen über sie erinnerte und schämte sich ein wenig. diese frau da auf dem sofa sah eigentlich ganz interessant aus, fand er, mit der könnte man mal was trinken gehen.
tja, und dann bin ich aufgewacht.
ich schwöre bei meiner großmutter, ich habe nichts dazugedichtet.

09. dezember 2004

kleiner blick durchs schlüsselloch
p.s. an irgendwelche hobbydetektive: ich bin nicht frau gabel, die da auch auf der tafel steht. das ist eine liebenswürdige ältere junggesellin (obwohl das auf mich ja irgendwie auch schon zutrifft). ich wohne jedenfalls, soweit ich mich erinnere, woanders.

04. dezember 2004

phrasen, die mir auf die nerven gehen: „ganz groß“. bis zum ohnehin allerlängst eingetretenen überdruss von sich vermutlich für originell haltenden schreiberlingen, anlässlich allerbeliebigster, innerhalb der nächsten fünf minuten geräuschlos zerplatzender seifenblasen, strapaziert.
haltet doch einfach euer maul, wenn euch keine lesenswerten adjektive für euer trend-gesummse einfallen. lest doch einfach mal ein paar gute alte bücher und merkt euch die wörter, die darin vorkommen. vielleicht sollte man diktatschreiben bei erwachsenen einführen. einer liest vor, alle schreiben mit. da bleibt doch bestimmt was hängen.
ich vermeide hartnäckig das-nicht-zu-überbieten unästhetische wort- gebilde ’blog|ger’ und dessen anverwandte. was scherts mich, ich mag es nicht schreiben, ich muß mich schütteln, wie das schon aussieht, wie das schon klingt. es klingt nach schleimig-schlab- berigem bubblegum, schweinchenrosa, schwabbelig-dehnbar und schmierig. beziehungsweise nach dem, was es überwiegend ist. geblubber eben. what you see is what you get. oder schöner: wohin du gehst, da bist du dann. (konfuzius)
hilfe. wo kommen diese bösen sätze da oben wieder her. und wo wollen sie hin. trotz solcher uncharmanter satzgebilde erhalte ich völlig unerwartet, und das auch noch zunehmend, charmante zuschriften. nie böse, immer höflich, immer nett. ich finde, so kann es bleiben.
obgleich. manchmal denke ich schon, dass es interessant wäre zu lesen, was verschiedene tagebuchflaneure gerade zu weniger netten beiträgen wie dem da oben, so spontan im affekt zu hinterlassen hätten. ja, ich meine kommentare, diese allseits beliebte plapper- funktion. könnte man ja. aber eigentlich hätte ich überwiegend einiges dagegen, hier seltsame fußspuren zu sehen. es wäre ein bißchen so, als würde ich kneipenbekanntschaften, gleich beim ersten zufalls- treffen noch am selben abend zu mir in die badewanne bitten. ach nein. die zeiten von one-night-stands sind vorbei. verbale auch.
aber nicht doch. ich bin gar nicht so vernichtend, wie es scheint. ich miste nur gerne aus. es gibt eine menge sätze, die ich gerne lese. man findet sie nur sehr selten in internetaufzeichnungen.
es sind sätze wie diese; ich falle anlässlich des folgenden, mit der bitte um copyright, vor dem autor sven lindqvist auf die knie
als ich 15 war, 1947, erschien die schwedische übersetzung von andré gides ’die früchte der erde’. sobald ich das buch geöffnet hatte, spürte ich, daß jemand zu mir sprach. nicht über meinen kopf hinweg zu anderen erwachsenen, sondern direkt an mich gerichtet. und so vertraulich, beinahe flüsternd, als wäre es spät in der nacht, wenn alle anderen schlafen. das buch gab mir einen neuen namen. nathanael, der mich in den text hineinzog, so daß wir dort zusammensein konnten. das gefiel mir sehr.
manche verfasser verstecken sich hinter der handlung, andere verstecken sich hinter den fakten. aber der meister in ’die früchte der erde’ verachtete solche verstecke. er sprach über sich selbst. er hatte eine botschaft. sie füllte das gesamte buch. sie lag schon in seiner stimme, in der art, wie er zu mir sprach. […] es war gefährlich und verboten, das spürte ich sofort. der meister trotzte allen autoritäten. er predigte aufbruch, aufbruch von allem, sogar von sich selbst. er sagte:
wenn du mein buch gelesen hast, wirf es weg und gehe hinaus! ich wünsche mir, daß es dir lust macht, etwas zurückzulassen, egal was, deine stadt, deine familie, deine gedanken. nimm mein buch nicht mit. mach dich frei davon…
diese stimme machte mich glücklich. aber sie machte mir auch angst. angst vor den ansprüchen, die ein aufbruch stellte. angst vor all dem unbekannten, das mich erwartete.

[ wüstentaucher, kapitel 63 ]
ich werde wieder bücher kaufen. sprache auf papier. feines, dickes, grobes, bedrucktes. gebundenes. großartiges. ohne halbwertzeit.
in leinen.

01. dezember 2004

die nächte, in denen man lange nicht schläft. musik hört und zeit verwirft. den näher kommenden winter. schon wieder haltlos sentimental an irgendeinen frühling denkt (den man gar nicht erlebt hat, nicht so). sommer auch. und so weiter. und immer weiter. und nicht mehr weint. nur beinahe, das aber sehr.
(ich sage doch elegisch. ‚aber mir glaubt ja immer keiner‘ wäre eine zu erwartende phrase, aber phrasen braucht kein mensch.)
das ist wahrscheinlich mein größtes glück, das ich erst noch richtig begreifen muss – dass man mir zu glauben scheint. vielleicht war es ja schon immer so, und ich habe es nicht verstanden. dass man mir glaubt. mir tatsächlich glaubt, in mich vertraut, egal was ich tue, verbreche und anstelle. bei allem versponnenen ‚unheil‘. unsinn. viel zu groß, viel zu schwer, viel zu gewaltig so ein wort, gar nicht angemessen – gar nicht.
das gute in sich endlich begreifen. endlich, nach allem – und vielleicht nicht zuletzt, weil es andere tun. ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber so klar wie jetzt, war mir das noch nie. tatsächlich. der winter kann kommen. er kann mir nichts anhaben. unmöglich. wie stark man werden kann. unglaublich.
(das sind sätze, die niemand unbedingt verstehen muss. ich führe gerne selbstgespräche)